Kapitel 2 - Abschied von Gleis 9 3/4

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[Zoe]


»Hast du wirklich alles?« Mrs. Griffin sah ihre Tochter prüfend und besorgt an, zupfte noch einmal ihren Mantel zurecht und strich ihr über den dunklen Haarschopf.

»Ja, Mum«, sagte Zoe ungeduldig und ihre Lippen formten sich zu einem nervösen Lächeln. Ihr Herz pochte wie verrückt, während sie den Blick über den Bahnsteig schweifen ließ. Obwohl sie viel zu früh gekommen waren, stand das ganze Gleis bereits voll von Menschen. Jugendliche, die einander in die Arme fielen, nachdem sie sich einen Sommer lang nicht gesehen hatten, Kinder, die aufgeregt an den Händen ihrer Eltern zogen, Eulen, die in ihren Käfigen mit den Schnäbeln klapperte und Katzen, die ihren Besitzern um die Beine strichen. Und über allem lag der weißliche Dampf der scharlachroten Lok, die abfahrbereit auf den Gleisen stand. Jedes Mal, wenn Zoe einen Blick auf die große Bahnhofsuhr warf, schien ihr Herz einen Moment auszusetzen. Noch zwanzig Minuten. Um elf Uhr würde der Hogwartsexpress abfahren und dann trennte nur noch eine Zugfahrt sie von ihrer neuen Schule, von dessen Existenz sie vor wenigen Monaten noch nicht einmal etwas geahnt hatte.

»Zo?« Die Stimme ihres kleinen Bruders riss sie aus ihren Gedanken. Oliver stand neben ihr und klammerte sich an ihren Ärmel. »Zo, du schreibst mir doch, oder?«

»Klar«, sagte sie und zwang sich erneut zu einem Lächeln, das jedoch eher wie eine nervöse Grimasse aussah.

»Dafür hast du ja auch extra deine Eule.« Mr. Griffin legte aufmunternd eine Hand auf die Schulter seiner Tochter und warf einen Blick zu der perlmuttfarbenen Schleiereule, die aufrecht in ihrem Transportkäfig saß und das rege Treiben um sich herum aufmerksam beobachtete. Zoes Blick war seinem gefolgt.

»Ihr schreibt mir doch auch, oder?«, fragte sie besorgt.

»Natürlich«, versicherte ihr ihre Mutter, »Jeden Tag, wenn du möchtest.«

Zoe betrachtete ihre Eule traurig und schüttelte den Kopf. »Nein, das ist sicher zu viel für Quincy. Außerdem bekommen die anderen bestimmt auch nicht so oft Post.« Sie machte eine Pause und kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Schade, dass ich nicht mit euch telefonieren kann.« Die Vorstellung, ein halbes Jahr nicht mit ihren Eltern sprechen zu können ließ etwas in Zoes Brust zusammenziehen wie einen merkwürdigen, herzförmigen Ballon. Tränen stiegen ihr in die Augen. Als einer der Lehrer in Hogwarts, Mr. Longbottom, die Familie Griffin im Juli besucht hatte, hatte er ihnen einiges über die Zaubererwelt erklärt, unter anderem, dass elektronische Geräte in Hogwarts nicht funktionieren würden. Professor Longbottom war sehr nett gewesen und hatte Zoe versichert, dass sie ihren Eltern ja jederzeit schreiben und sie in den Ferien besuchen konnte und dennoch fühlte sie sich plötzlich seltsam verloren zwischen all den Schülern auf dem Bahnsteig, die einander bereits kannten.

Als hätte ihre Mutter ihre Gedanken gelesen, nahm Mrs. Griffin ihre Tochter fest in den Arm und drückte sie an sich.

»Du schaffst das schon, Zo«, flüsterte sie ihr ins Ohr und Zoe, das Gesicht in den Haaren ihrer Mutter versenkt, atmete tief ihren Geruch ein, fest entschlossen, ihn für das nächste halbe Jahr im Gedächtnis zu behalten.

»Und wenn es ganz schlimm ist oder dich jemand ärgert, dann schreibst du mir und ich komme vorbei und zeige denen, wie man sowas auf Muggelart löst«, verkündete Mr. Griffin halb lachend, halb ernst.

Zoe grinste, schluckte ihre Tränen hinunter und straffte die Schultern. »Okay«, verkündete sie und schob ihre Brille zurecht. Dann nahm sie ihre Eule in die eine, ihren großen Koffer in die andere Hand. »Ich gehe dann jetzt rein und such mir einen Platz.« Zum einen wusste sie, dass ihr der Abschied noch schwerer fallen würde, je länger sie hier mit ihrer Familie stand, zum anderen hatte sie Angst, später bei all den fremden Schülern keinen Sitzplatz mehr zu finden. Noch schien der Zug immerhin halbwegs leer zu sein. Nur vereinzelt lehnten sich Schüler aus den Fenstern der Waggons, um mit ihren Freunden und der Familie auf dem Bahnsteig zu sprechen.

Haus und VorurteilWhere stories live. Discover now