Gedankenplage

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Die Nacht war noch lang, obwohl die Schicht solange dauerte wie immer. Immer wanderte mein Blick hin und her, aber ich sah sie nicht mehr. Ich hielt die Tür im Auge wie ein Luchs, jede Bewegung im Raum erfasste ich, aber sie war nicht in meinem Blickfeld. Insgesamt hatten die drei Vodka-Shots zwar bewirkt, was sie sollte, aber ich war nicht so ruhig, um gut schlafen zu können. Ich wälzte mich hin und her, drehte ständig meine warme Decke auf die kalte Seite um, wechselte die Lage meiner Hand auf dem Kissen. Eigentlich war der Tag anstrengend gewesen, wieso also nicht einfach mal problemlos der Müdigkeit verfallen? Alles was ich um mich herum sah, waren die wachenden Augen von Professor Doktor Olga Valencova. Diese Frau musste mächtig mit sich zufrieden sein. Wer so auf seinen Professor-Titel besteht, wie sie in der Vorlesung, der trägt das Kinn mächtig hoch. Und dann, dass ich mitschreiben soll, was bildet die sich ein? Natürlich ist Mitschreiben nie eine schlechte Idee und unterscheidet den Aufmerksamen von dem, der seine Gedanken schweifen lässt und zeigt, wer ambitioniert und tatkräftig mitarbeitet. Aber ich bin keine Grundschülerin mehr, ich kann selber entscheiden, wann es nötig ist mitzuschreiben. Gut, das war nicht ganz richtig. Ich hätte ja mitgeschrieben, wenn mich ihre auserlesene Präsenz nicht davon abgehalten hätte.

Und dann die Aussage, dass ich besser Drinks machen kann als mitzuschreiben. Das hätte sie sich verheben können. Aber das stellt auch noch mehr zur Schau, dass sie die Zügel in der Hand hat und vermeintlich weiß, was abgeht. Wie kann sie denn bei hunderten Studenten gleich wissen was abgeht, wie will sie denn sehen, was im Kopf einer beliebigen Person vor sich geht?! Bin ich etwa so durchschaubar? Daran muss ich dringend arbeiten. Auf die innere To-Do-Liste gesetzt.
Ich drehte mich zum Wecker. 2 Uhr. Klasse. In viereinhalb Stunden geht es schon wieder los. Mit viel Hin und Her und plagenden Gedanken, schlief ich nach Ewigkeiten irgendwann ein und kurz darauf, klingelte der Wecker. Demotiviert schlug ich auf ihn ein und stellte ihn ab. Mit allergrößter Mühe setzte ich mich auf. Durch den Rolladen drang etwas Licht, aber nicht besonders viel. Der Sommer war eben schon längst vorbei. Ich gab mir einen Ruck und stand auf, lief wackelig in die Küche und machte den Wasserkocher an, Instantkaffepulver in die Tasse, Wasser drauf und fertig. Der nächste Weg führte ins Bad, eine Runde unter die Dusche springen. Danach machte ich meinen Laptop an, Punkt 7 Uhr. Heute steht erst der Bibbesuch an, dann eine Vorlesung stinkig langweiliger Gesundheitsökonomie und nachmittags ein Untersuchungs-Kurs. Klasse. Ich kam nicht umhin, als erstes Innere Medizin vorzuarbeiten und mir sämtliche Fachtexte dazu durchzulesen. Ganz unbewusst checkte ich die Titel der Autoren der Fachbücher, bis mir irgendwann klar vor Augen stand, dass ich ihren Namen dort suchte. Sie musste doch Bücher veröffentlicht haben oder mitgewirkt haben, dass haben die meisten Professoren bei uns. So tippten meine Finger von ganz allein ihren Namen bei Google ein und ich landete auf der Website des Universitätsklinikums und mir war ein hübsches Porträt von ihr gegenüber. Aber sie lächelte nicht wirklich voll, sie lächelte überlegen, professionell, zwar auf ihre ganz besondere Art und Weise hinreißend, aber doch wirkte es abweisend. „Leg dich nicht mir mir an", sprach das Bild. Ich scrolle näher ran und erst dann konnte man erkennen, dass sie Mitte, vielleicht auch schon Ende Vierzig war. Jünger wäre auch praktisch unmöglich gewesen, da Chefärzte in der Regel eine Laufbahn und viel Erfahrung aufweisen müssen.

Je länger ich mir das Bild ansah, umso präsenter wurde sie mir wieder und das Versprechen, die Bedrohung, die von ihren Augen ausging. Wenn man danach suchte und daran dachte, war die Sexualität, die dieses Bild ausstrahlte, ganz unumstritten vorhanden und zeigte sie von einer ganz verführerischen Seite. Nachdem ich auch noch die anderen Bilder auf Google durchforstet hatte, war ich ganz benebelt von ihr und ihrem Aussehen, sie spukte weiterhin in meinem Kopf. Ich stürzte mich in die Fachtexte und machte mir Notizen, Zusammenfassungen und sah mir Schaubilder an, die ich dann abzeichnete und beschriftete. Als mein Magen grummelte, merkte ich, dass ich vor lauter Valencova mein Frühstück vergessen hatte. Ich stand auf, war mit einem Schritt in meiner Küche und hatte glücklicherweise noch eine Banane da. Die schnitt ich mir klein, haute sie zu etwas Joghurt und noch ein wenig gefrorene Beeren oben drauf. Um 8:30 schreckte ich auf, und begann meine Lernsachen zusammenzusuchen und alles im Rucksack zu verstauen. Dann ging es auch schon auf zur Bibliothek.

Obsession in weißen Kittelnحيث تعيش القصص. اكتشف الآن