Viele vergangene Jahre danach

1.9K 87 20
                                    


„Dr. Stahl, könnten sie sich das bitte einmal anschauen? Ich bin mir nicht sicher, ob punktieren hier sinnvoll ist." Ich seufzte. Die Assistenzärzte wurden immer schlechter und immer uneigenständiger. Waren wir damals auch schon so? Sicherlich nicht. Weder in meiner ersten, noch in meiner zweiten Assistenzarztausbildung war ich so. Und daher konnte man es ihnen auch vorhalten: „Max, hat der Patient Fieber und Nackensteife?", und ohne die Antwort abzuwarten, setzte ich nach: „Dann punktieren sie bitte sofort und rufen mich deswegen nicht mitten in der Visite an. Das könnte ein Student in der Vorklinik beantworten." Sofort setzte das Gewissen ein, nicht so zu sein, nicht so wie sie zu sein. Und nach einer kurzen Pause fragte ich, sanfter: „Oder weshalb zweifeln sie?" Max antwortete darauf nicht, sondern entschuldigte sich und legte auf. Aber das Gewissen war bereits schlecht. Ich seufzte und rieb meine Schläfen. Als Oberärztin war es doch nicht so entspannt, wie alle gesagt hatten - vor allem nicht wenn man lauter junge und schüchterne Assistenzärzte und Ärztinnen unter sich hatte, die wegen jeder Kleinigkeit anriefen und nachfragten. Wenn ich ihnen das durchgehen lassen würde, dann würde ich ständig angerufen werden und das bis zum Dienstende und darüber hinaus. Würde ich es ihnen nicht durchgehen lassen, dann wäre ich wie sie und das durfte um keinen Preis passieren.

Ich wollte gute Medizin machen, einen guten Job machen und eine gute Ärztin sein. Das beinhaltete gute Patientenbeziehungen, exzellente medizinische Advertise und Fähigkeiten, sowie eine gute und kollegiale Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen und innerhalb der eigenen. Es funktionierte, ich war gerne gemocht, gerne gesehen und verstand mich mit allen gut. Das musste ich mir immer wieder sagen: ich war nicht wie sie. Ich würde nicht so wie sie werden.

Nachdem Olga nach Berlin abgereist war, trat Fatigue ein. Die Fatigue hielt lange an und ich war mir auch Jahre später sicher, sie noch nicht überwunden zu haben. Ich dachte über viele Sachen nun anders, sah sie nicht mehr ganz so krass an, aber blieb auf einigen Tatsachen felsenfest beharrend. Olga hatte mir damals alles genommen, sie hatte es mir entrissen und ich war jung und naiv und ließ es sie entreißen. Diese Löcher zu stopfen und die Narben zu verheilen war Schwerstarbeit. Nie wieder vertraute ich jemandem einfach so, nie wieder sah ich jemanden so an, wie ich damals Olga angesehen hatte. Und nie wieder, war ich so emotional. Ich hatte auch nie Berlin besucht. Denn sie hätte gewusst, wenn ich dort gewesen wäre und sie hätte ihre Macht spielen lassen. Dass sie das tat, zeigte sie mir, wenn sie bei uns an der Universitätsklinik war und Vorträge hielt oder Fortbildungen besuchte. Sie kam dann zufällig in meine Klinik, obwohl diese weit entfernt von der inneren Klinik war und tat so, als wüsste sie nicht, wo sie hinmusste. Ich sah sie bereits, bevor sie mich sah und verbarrikadierte mich sofort im Arztzimmer und versuchte meine Panikattacke in Griff zu bekommen. Auch nach Jahren war es ihr immer noch ein Spaß einfach zu manipulieren. Natürlich wusste sie, dass ich hier Oberärztin war. Sie hatte bestimmt auch schon oft genug über meine zwei Fächer gelacht. Und ich wäre im Arztzimmer geblieben, wenn nicht wie üblich ein Notfall reingekommen wäre und ich Teil des Schockraum-Teams sein musste. Ich atmete tief durch und joggte in die Notaufnahme. Selbstverständlich stand sie immer noch im Flur und unterhielt sich mit einem meiner Kollegen, was mir gar nicht gefiel. Sie hatte in meinem Fach keine Expertise. Und das war auch gut so. Während ich joggte, ging ihr Blick hoch und es war wie früher. Sie sah genauso aus, in edlen dunklen Designerklamotten, die schwarzen Haare noch immer gut schwarz gefärbt. Nur ihr Gesicht war noch schärfer, noch härter und noch furchteinflößender geworden. Die Weiche, die ich einst in ihr hervorrufen konnte, schien nie dagewesen zu sein. Sie sah mich an. An mir sah sie nichts. Ich war sicher auch älter geworden, aber noch immer erst Anfang Dreißig. Trug keinen hohen Pferdeschwanz mehr wie früher, sondern hatte meine kürzeren Haare nur leicht hinten zusammen geklemmt. In dunkelblauem Kasak und weißem Kittel, ohne Stethoskop, denn das war nicht für meine Disziplin nötig. Ich joggte einfach an ihr vorbei und sah wieder weg. Spürte ihren Blick aber bis ich in die Notaufnahme einbog.
Nach dem die Hirnblutung versorgt war und in den OP zu den Kollegen ging, trat ich den Rückzug an und rief Miriam an. Die meldete sich mit: „Du bist so umsichtig, für deine SAB ist schon ein Platz bei uns auf Intensiv gebucht worden." - ich unterbrach sie jäh: „Olga ist hier." Miriam stockte: „Was?!" - „Sie ist hier, sie stand vorher bei mir auf dem Flur rum und hat mich angeglotzt." - „Sehen wir uns in 10 Minuten bei mir? Kann hier gerade nicht weg, du weißt, deine SAB kommt gleich."
Wir sahen uns und auch nach all den Jahren stand ich und stehe immer noch tief in Miriams Schuld. Sie hatte mich damals gerettet und sie präventionierte jetzt wieder. Wir fanden heraus, dass unser Kardio-Chef eine große Fortbildung abhielt und dass Olga es sich natürlich nicht nehmen ließ, da von der Charite her zukommen und Präsenz zu zeigen. Aber ich sah sie den Aufenthalt nicht wieder. Und wenn ich sie sah, hoffte ich insgeheim immer, dass sie leicht gelb war und ein dreckiges Leberkarzinom entwickelte. Sie hatte hier nichts zu suchen, das war unsere Klinik, unser Ort.

Ich war schon lange nicht mehr da, wo ich studiert hatte. Niemand von uns war noch dort. Miriam war als Oberärztin in der Anästhesie Leiterin der Intensivstation in der selben Uniklinik wie ich und wir sahen uns immer, wenn ich dort auch Patienten hatte und auf Visite war. Carlo und Steffi waren mittlerweile verheiratet und hatten nun gerade nach ein paar Jahren Oberarzttätigkeit ihre erste gemeinsame Praxis gegründet, Carlo als Internist mit Schwerpunkt Rheumatologie und Steffi mit Schwerpunkt Hämatologie. Wir trafen uns alle mindestens einmal im Monat und gingen gemeinsam schick essen. Wir waren alle gewachsen und hatten alle aus der Geschichte mit Olga gelernt, aber vor allem hatte es uns zusammen geschweißt. Wir standen immer für uns ein. Als Steffi und Carlo kurze Zeit getrennt waren und den schlimmsten Streit hatten, haben wir es gehalten und auch als Miriam letztes Jahr mit Covid selbst auf ihrer Intensivstation lag, haben wir es geschafft. Wenn auch langsam und spärlich, lernte ich wieder vertrauen, wurde selber Professorin und bekam mit meiner Vorlesung, zum Neid von Miriam, die Preis für die beste Lehrveranstaltung.

Und als ich mich dann doch das erste Mal nach Berlin wagte, weil ich zur Präsidentin von einem Verband gewählt wurde, traf ich sie. Und dann wurde alles anders.
______________________________________________________________________
Verehrte Leser und Leserinnen. Es ist sicher nicht so, wie sich es alle vorgestellt haben, aber die Aufmerksamen unter euch werden gesehen haben, dass es so kommen musste und dass kein Weg daran vorbeigeführt hat. Ich habe immer wieder Anzeichen eingeflochten, die Olgas Absichten und den unveränderteren Charakter zeigen. Das Ende ist nicht das happy End von Olga und Melanie, aber es ist ein glückliches Ende für Melanie, fern ab von einer Beziehung in Abhängigkeit und Toxizität. Olga wurde immer massiv durch Melanie idealisiert, die oft schon gemerkt hat, dass es mehr Schein als Sein ist und aus Abhängigkeit und Konditionierung immer weiter gemacht hat. Olga Valencova wurde dargestellt mit einer Persönlichkeitsstörung, hat sich geweigert das einzusehen und hat sich geweigert sich selbst helfen zu lassen.
Ich danke euch sehr, dass ihr diese Gesichte gelesen habt und erkläre sie hiermit als abgeschlossen.
Alles Liebe, tranquilitarina

Obsession in weißen KittelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt