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Psychic
Geschrieben für den Schreibwettbewerb von crazy-Bffs

1. Platz Butterfly Award 2021 in Kurzgeschichten

 Platz Butterfly Award 2021 in Kurzgeschichten

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Das ratschende Geräusch des zerreißenden Stoffes brannte sich brutal in ihr Gehör. So weit über ihren Köpfen hing ihr kleiner Bruder und krallte sich mit aller Kraft in die rutschige Seide.

Von unten konnte sie nur seine strampelnden Beine sehen, die hilflos in der Luft baumelten. Kathi wollte sich nicht ausmalen, wie grauenvoll die Angst des Elfjährigen sein musste.

Die Stadtbibliothek war ein altes, sperriges Gebäude, dem eine Sanierung nicht geschadet hätte. Die knarzigen Dielen, die hohen Fenster, mit den seidigen Vorhängen, die der Staub benetzte waren charakteristisch für diesen Ort. Vier Stockwerke ragte es in den bewölkten Himmel, aus dem vereinzelte Regentropfen fielen.

Der Stofffetzen, an dem Marco sich festklammerte gab erneut ein unheilvolles Geräusch von sich und der Junge schrie auf.

Er hing aus dem Fenster des obersten Stockwerkes und rutschte weiter und weiter den glatten Stoff des Vorhangs hinab. Kathi hatte keine Ahnung, wie ihr Bruder in diese Situation geraten war. Sie wusste nur, dass die Tür der Bibliothek verschlossen und er ganz alleine war.

In diesem Moment bog ein Leiterwagen der Feuerwehr in die Straße und trieb die Menschen auseinander, die wie gebannt das Schauspiel beobachteten. Die Uniformierten sprangen aus dem Wagen und schon bewegte sich die riesige Drehleiter auf dem Dach des Fahrzeuges.

Dann ließ Marco los und fiel.

Noch Jahre später sollte sie sich gerne vorstellen, dass der Junge geflogen und wie ein Vogel hinter den Wolken verschwunden war.

Die Realität sah anders aus. Die Feuerwehrleute rannten eilig auf den kleinen Körper zu, der auf dem kalten Asphalt lag und sich nicht rührte. Kathi traute sich nicht, die Augen zu öffnen. Sie stand da, mitten auf der Straße, umgeben von ihrer schaulustigen Nachbarschaft, die kreischend hin und her wuselte. Die Sirenen des Notarztes schreckten sie aus ihrer Trance.

Ein Arzt bedeutete doch, dass es noch jemanden gab, dem geholfen werden konnte, oder nicht?

Sie öffnete die Augen und ihrer Hoffnung wurde in den Magen getreten. Marco war nichts als ein Haufen gebrochener Knochen und verrenkter Gliedmaßen, die Kathi zum taumelnd brachten. Langsam schritt sie auf das Geschehen zu.

Jemand hielt sie zurück. "Geh nicht dort hin, es wird dein Leben ruinieren", murmelte eine tiefe Stimme, die Kathi nicht zuordnen konnte. Dennoch gehorchte sie. Stumm blickte sie aus der Ferne auf ihren Bruder, das einzige Familienmitglied, das sie nicht abgrundtief hasste.

So tief, wie es gerade gefallen war.

An diesem Abend gab es nichts zu essen. Ihre Eltern saßen ihr schweigend gegenüber. Noch lauter als ihr Schweigen war die spürbare Wut im Raum. Sie gaben ihrer Tochter die Schuld, das wusste sie.

Aber was sollte sie tun? Das Leben würde von nun an sehr anders verlaufen, brutal und schmerzvoll. Die Welt hatte sich an diesem Tag dazu entschieden, Kathi das zu nehmen, was ihr wichtig war, ihr Leben zu zerstören.

Ihr Vater hatte sie vor dem Schlafengehen nur zwei Mal geschlagen. Jetzt lag sie mit Tränen in den Augen auf Marcos Matratze und starrte an die Zimmerdecke, von der phosphoreszierende Sterne zurück leuchteten.

War das alles wirklich? Wie konnte es sein, dass ein Kind zu Tode und niemand zur rechtzeitigen Rettung kommt?

Die Nacht verging viel zu schnell. Als sie die Augen um sechs Uhr aufschlug war der Himmel noch immer bedeckt. Fröstelnd wankte sie zum Fenster und riss die bunt bedruckten Vorhänge zur Seite. Eine leichte Nebelschicht waberte durch die Luft und versperrte die Sicht.

Nur war ihr, als stünde dort, weit hinter dem Gartenzaun der Nachbarin eine vermummte Gestalt. Erschrocken fuhr Kathi zurück. Sie hatte sich nicht geirrt. Die Gestalt hob die Arme und wischte sich die Kapuze aus dem Gesicht.

Trotz dieser Enthüllung war es ihr nicht möglich die Züge zu erkennen. Wer immer ihr Zuhause beobachtete, er blieb ihr verborgen.

Angst breitete sich in ihr aus. Besonders als sie das glänzende Eisen in seiner Hand entdeckte. In ihrem leben hatte sie noch nie eine Waffe gesehen, aber diese sah eindeutig so aus, wie die aus den Filmen.

Kathi schluckte, dann stürzte sie zur Tür und die Treppe runter. Ihre Eltern saßen in der Küche, Teetassen in ihren Händen. Sie blickten auf die Tischplatte vor ihnen und sprachen nicht. Sie hatten sich in den letzten Monaten schon verändert, doch seit gestern waren sie ungewohnt still.

Dabei sahen sie jedoch nicht aus, als hätten sie ein Kind verloren. Sie waren einfach nur zwei Menschen, die sich anschwiegen.

"Da ist ein Mann vor meinem Fenster, er hat eine Waffe, kommt schnell mit, bitte!", flehte Kathi, die irritierten Blicke ignorierend. "Du bist traumatisiert, Katharina. Ich werde gleich einen Termin bei einem Therapeuten machen", sagte ihr Vater und zückte sein Smartphone.

"Was, nein! Ich bin doch nicht bescheuert. Marco wurde nicht erschossen, aber der Typ, er..."

"Nein, da hast du Recht. Es war ein tragischer Unfall. Auch das kann Halluzinationen hervorrufen", meinte ihre Mutter beschwichtigend. Kathi schüttelte den Kopf.

"Erstens, wieso zur Hölle sollte Marco sich "zum Spaß" aus dem Fenster hängen und in seinen Tod gleiten? Zweitens: Da steht ein Fremder vor meinem Fenster und er hat eine Waffe! Hört ihr mir eigentlich zu?"

Mühsam richtete ihr Vater sich auf. "Gut, dann gucken wir doch mal."

Er hob den Vorhang leicht an, um aus dem Küchenfenster blicken zu können. Der Platz hinter dem Gartenzaun war leer. Kathi runzelte die Stirn. "Aber - "

Ihr Vater nickte und setzte sich wieder. "Hier", murmelte er und drückte ihr eine Münze in die Hand. "Kauf dir ein Eis und vergiss die ganze Sache mit Marco."

"Bitte was?", fragte Kathi entsetzt. "Er ist mein Bruder! Euer Sohn, betrifft es euch denn überhaupt nicht, dass euer Kind GESTORBEN ist?" Fassungslos sah sie vom einen Elternteil zum anderen.

"Süße, Unfälle passieren..." Ihre Mutter lächelte schief. Kathi stutzte, die Münze in ihrer Hand drehend. "Ihr seid doch nicht mehr ganz dicht", fauchte sie und knallte das Geld auf den Küchentisch. Dann verließ sie das Haus.

Vor dem Garten der Nachbarin wechselte sie die Straßenseite. Nur um auf Nummer Sicher zu gehen.

Das City Center war zu dieser Zeit noch wie leer gefegt. Die Rollläden wurden allmählich hochgefahren und die Mitarbeiter der Geschäfte schoben Kartonstapel auf ihren Sackkarren durch die Gänge.

Unbehaglich schlenderte Kathi zu dem Ort, an dem alles begonnen hatte. Der Bibliothek, die auf der anderen Seite des Centers lag.

Hinter der Glastür stand eine vermummte Gestalt und spielte mit einem Revolver.

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