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SabinaOehler

Wörter: Familienfest, Hagel, Verspätung, Spiegelbild

746 Wörter

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Traditionen brechen

Es ist dunkel. Zu dunkel. Willi sieht kaum die Hand vor Augen, während er frustriert durch die Kälte des Abends stapft.

Es ist heilig Abend. Die Häuser um ihn herum drücken ihm diese Information mit ihren lächerlichen Lichterketten und Schneemaschinen in die Augen. Durch die Fenster kann er silberne Baumspitzen und gedeckte Tische erkennen, freudige Familien, die besinnlich beisammen sitzen.

Und dabei ist dieser Abend total unheilig, wie Willi findet.

Es liegt kein Schnee, der Boden ist matschig und die Straßenlaternen funktionieren nicht.

Und dann ist er auch noch auf dem Weg zu diesem Ereignis, das sich Familienfest schimpft. 

Willi kann seine Familie nicht ausstehen. Einer ist schräger als der andere und das zum Negativen.

Ein Wind pfeift durch die menschenleere Gasse, in der Willis Onkel Ralf mit seinen zwei Kindern und seiner Frau lebt.

Willi hat es zur Tradition gemacht, jedes Jahr mit einiger Verspätung an die grüngestrichene Haustür zu klopfen und mit einem entschuldigenden Grinsen die alljährliche Likörflasche in die Höhe zu halten.

Auch jetzt schlägt er seine Faust zwei Mal gegen das Holz. Aber nichts passiert. Die sonst so laute Familie bleibt stumm.

Das ist ungewöhnlich, findet Willi und geht einmal um das Haus herum. Auch im Garten ist es dunkel.

Wo sind sie denn alle?

Willi bereitet sich auf einen Streich vor und zieht den Kopf ein. Vielleicht ein Hagel aus Baumkugeln oder Schokoriegeln, die er eigenhändig würde aufsammeln müssen, weil Onkel Ralf keine Lust hat, seinen Platz hinter dem Dachfenster all zu schnell zu verlassen?

Er seufzt und klopft an die Terrassentür. Aber da ist niemand. Nur sein Spiegelbild sieht ihn durch die Scheibe hindurch an und zuckt mit den Schultern.

Willi lässt sich fröstelnd auf den Liegestühlen nieder, die Tante Elise seit August plant, aufzuräumen. Nun ist er dankbar, dass sie ihre Nachmittage mit dem Zusammenkleben von Bonbonpapieren verbracht hat, um der lästigen Tätigkeit des Garten Aufräumens zu entgehen.

"Hallo?", fragt er unmotiviert in die Stille hinein, die sich mit einem Mal um ihn schlingt.

"Ralf? Elise?" Er hält sich zurück, die Kinder bei ihren üblichen Spitznamen zu rufen. Denn Wichser und Idiotin sind zwar zutreffende, aber für die Nachbarn recht unangebrachte Namen, die an einem heiligen Abend wie diesem erklingen könnten.

Willi versucht, sich an ihre eigentlichen Namen zu erinnern.

Da quietscht das Gartentor. Erschrocken fährt er herum. Da steht aber kein Einbrecher, sondern nur ein älterer Herr mit Hut und Gehstock, der sich trotz des ungemütlichen Wetters nun auf Willi zubewegt.

"Wer sind Sie denn?", erkundigt sich der und beeilt sich, dem Herren Platz zu machen.

"Ich wohne Nebenan", lächelt der Mann freundlich. "Warum rufen Sie denn so laut? Sind Sie sitzen lassen geworden?" Er kichert.

"Ich fürchte ja", meint Willi und bietet dem Mann die Likörflasche an, die dankbar entgegengenommen wird.

"Eigentlich kann ich mein Weihnachten dieses Jahr auch einfach mal so verbringen, wie es sein sollte. Gemütlich vor dem Fernseher mit einem Schnaps."

Der Mann gluckst. "Ja, ja, das tue ich jedes Jahr. Sie sind wohl kein Fan der heiligen Nacht?"

Willi schüttelt den Kopf. "Ganz und gar nicht. Mein Onkel Ralf schafft es jedes Jahr, den Baum anzuzünden. Dabei sind wir inzwischen doch schon zu elektronischen Kerzen übergegangen."

"Ja", nickt der Nachbar. "Letztes Jahr waren die Flammen dennoch höher als die Jahre davor. Für mich ist das eine wundervolle Weihnachtstradition geworden." Er nimmt noch einen Schluck.

"Wenn Sie wollen, kann ich diesen Stuhl hier anzünden", bietet Willi an. 

"Danke nein", lehnt der Herr ab. "Ich warte lieber auf das richtige Feuer. Wissen Sie, ich habe die Theorie aufgestellt, dass Ralf gar nicht so inkompetent ist wie er scheint. Denn jedes Jahr nimmt er das Feuer als Anlass, einmal bei mir vorbeizuschauen und sich mit einer Flasche Wein für den Lärm zu entschuldigen."

"Dann sind Sie dieses Jahr sicherlich enttäuscht", mutmaßt Willi und trinkt einen Schluck.

"Noch nicht, aber wenn das nächste Feuer kleiner ist als das letzte, dann beschwer ich mich."

Willi runzelt die Stirn. "Aber Ralf und Elise sind doch offenbar nicht zu Hause."

"Natürlich sind Sie das nicht." Nun runzelt der Nachbar die Stirn. "Sie kommen doch erst in ein paar Stunden aus den Skiferien zurück, um dann hier zu feiern. Das tun sie jedes Jahr, das müssten Sie doch wissen, als Eingeladener."

Und da geht Willi ein Licht auf.

"Es ist der 23. Dezember, nicht wahr?"

Amüsiert sieht der Mann ihn an.

"Wie wahr." Er steht auf. "Aber vielen Dank für den Likör."

Er hebt den Hut zum Abschied und geht. Am Gartentor angekommen dreht er sich noch einmal um und sagt: "Dieses Jahr haben Sie die Tradition gebrochen, nicht wahr?"

Willi sieht ihn fragend an.

"Sie sind pünktlicher denn je. Und Likör haben Sie jetzt auch nicht mehr."

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