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Siehst du ihn nicht?

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Als die ersten Anzugträger und japanischen Touristengruppen die nächtliche Ruhe störten, wusste Ivolan nichts mit sich anzufangen. Müde rappelte er sich auf und stopfte Unterlage und Spritzensammlung in einen kleinen Sportbeutel, den er vor wenigen Monaten in einem Mülleimer gefunden hatte.

Er schlurfte dem Ausgang entgegen, dorthin, wo es laut war und die Menschen ihn mit abschätzigen Blicken musterten. Er gehörte nicht zwischen die Pendler und Straßenkünstler. Er war weit unter ihrer Würde.

Den Tag verbrachte er wie immer vor dem Supermarkt, wo entrüstete Mütter ihre Kinder fest an der Hand nahmen und von ihm wegzogen. Hin und wieder leinten Kunden ihre Hunde an den Aktionsaufstellern vor dem Eingang an. Das gab Ivolan die wenigen glücklichen Momente, die er so dringend brauchte.

Doch heute war es anders. Niemand ließ sein Tier vor dem Supermarkt zurück. Niemand sah ihn an. Und er wusste, dass auch niemand mehr auf ihn warten würde, wenn er am Abend in den Tunnel zurückkehrte. 

Skunk würde ihn nicht mehr versorgen können.

Ivolan lebte seit einem knappen Jahr auf der Straße. Seit er seinen Schulabschluss nicht geschafft und seine Eltern ihn rausgeschmissen hatten. Dabei hatte er mehr gelernt als je zuvor. Doch offensichtlich war das Schicksal anderer Meinung gewesen.

Er hatte Leute auf offener Straße sterben sehen, Raubzüge, Überdosen, Schlägereien und Krankheit. Bisher hatte sein Dealer ihn vor dem größten Übel verschont, jetzt war er auf sich gestellt. Und er wusste sich selbst nicht zu helfen.

Gegen Mittag zog er weiter, die Hardenbergstraße entlang, bis er sich vor dem Zoopalast niederließ und die verschiedenen Grüppchen von Schülern beobachtete, die lachend das prunkvolle Gebäude betraten.

Es war eine ermüdende Tätigkeit. Ivolan war schon fast glücklich, als die Sonne hinter den Häusern verschwand und das Berliner Nachtleben allmählich erwachte. Der Bahnhof war nun gefüllt mit Menschen, besonders der Tunnel. 

Seufzend quetschte er sich an den trinkenden Jugendlichen vorbei, die zu zweitklassiger Musik abgingen. Endlich rutschte er zurück auf den Boden. Martin lag noch immer regungslos dort, wo Ivolan ihn zurückgelassen hatte.

Kurz überlegte er, ob er sich nach seinem Zustand erkundigen sollte, doch er entschied sich dagegen. Nicht, wenn es so überfüllt war. 

Neben ihm knallte eine Bierflasche auf den grauen Zement und zerbrach. Das lauwarme Getränk spritzte in alle Richtungen und Ivolan fuhr erschrocken zurück. Dann kam ihm ein Gedanke, wie er die Scherben betrachtete, die sich in einem undefinierten Muster verteilt hatten.

Tief in sich spürte er das selbe, eine zersplitterte Seele, die der Macht der Straße ausgesetzt war.

Kurzerhand schnappte er sich den Flaschenhals und stand auf. Er legte seinen Beutel eben Martin ab, der im Schlaf vor sich hin murmelte. Er würde sich über die Matte freuen, da war Ivolan sich sicher. 

Er schlenderte den Tunnel entlang, über ihm das Rauschen der Züge. Er sah sich nach den öffentlichen Toiletten um. Zu seiner Erleichterung waren sie leer. Er konnte es den Menschen nicht verdenken, dass sie lieber auf den Bahnsteig pissten, als hier her zu kommen.

Ivolan starrte sein mageres Gesicht im verdreckten Spiegel an, die leeren, müden Augen, voller Selbsthass und Verzweiflung. Eine Träne rollte über seine Wange und tropfte von seinem Kinn. Er nahm den Ohrring seiner Mutter, den er immer getragen hatte ab und ließ ihn in den Abfluss des Waschbeckens fallen. Klirrend bahnte er sich seinen Weg durch die Rohre, bis er endgültig verschwunden war.

Er brauchte sie jetzt nicht. Sie hatte ihm nur eines ermöglicht: Das grausame Leben im Bahnhof Zoo.

Ivolan griff sich den Flaschenhals und untersuchte ihn genauer. Seine Hand zittertete. Angst ergriff Besitz von ihm. Ein Schluchzen entfuhr seiner Kehle. Er schloss die Augen und zog die Bruchkante durch seine Pulsader am Handgelenk.

Fluchend stolperte er rückwärts gegen die Kloschüssel. Ivolan keuchte auf, der stechende Schmerz in seinem Arm betäubte ihn. Erst jetzt fielen ihm die unzähligen Spritzer Blut auf der kleinen Armatur auf. Er folgte der Spur aus dicken Tropfen auf den Kacheln und wagte einen Blick auf seinen aufgeschlitzten Unterarm, der ihm fast den Magen umdrehte.

Ivolan kniff die Augen zusammen und spürte das warme Blut über seine Handgelenke laufen, merkte, wie es sich seinen Weg zu den Fingerspitzen bahnte und von dort auf seine Jogginghose troff. Ihm war schwindlig, als um ihn drehte sich rasant. Ein Gemisch aus rot und grau prägte seinen letzten Blick.

Er dachte an Skunk. "Du schaffst es auch."

Ivolan schüttelte schwach den Kopf. Sterben war unbefriedigender, als er es sich vorgestellt hatte. Sein Herz wollte ihm aus der Brust springen, aber es konnte nicht, sein Körper brachte keine Energie mehr dazu auf.

Er seufzte. Dann wurde es schwarz.

Und um ihn herum war es warm. War es das Gefühl von Liebe und Geborgenheit, dass er so lange nicht erfahren hatte? Die Umarmung seiner langersehnten Freundes?

Ivolan lächelte in seinen Tod hinein.


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