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Psychic

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Nachdenklich saß sie auf dem Fußboden und rollte einen kleinen Gummiball, mit dem Marco und sie früher gerne gespielt hatten hin und her. Die Tür hatte Kathi abgesperrt und verrammelt. Ihr Vater stritt im Flur mit ihrer Mutter. Die Worte waren zu leise, als dass sie etwas verstanden hätte, sie war sich sicher, dass es um sie ging.

Erst spät am Abend konnte sie sich wieder entspannen. Kurz lauschte sie noch in die eingekehrte Stille, dann kletterte sie auf ihr Bett und zog den zerknüllten Papierbogen aus ihrer Hosentasche.

Sie hatte ihn aus dem Safe entwenden können, als ihr Vater sich kurz weggedreht hatte. Nun hielt sie das Dokument in ihren Händen und versuchte, es zu glätten, um die Buchstaben darauf zu entziffern.

Im Dunkel der Nacht lief ihr ein Schauer über den Rücken. Schockiert hielt sie den Bogen von sich, nicht im Stande glauben zu können, ihre Eltern hätten etwas mit dessen Inhalt zu tun.

Das Papier war bedruckt mit einer Email von vor wenigen Tagen. Den Absender kannte Kathi nicht, dabei wusste sie eigentlich von so gut wie jedem Mitarbeiter der Firma. Aber einen Georg Flint hatte sie dort noch nie gesehen. Und von ihm stammte die Email.

Der Betreff lautete: Psychic

Verwundert überlegte Kathi, aber sie konnte sich nicht ausmalen, was es mit diesem so willkürlich klingenden Wort auf sich hatte.

Lieber Martin,

Die Operation Psychic ist bereit zum Angriff. Je schneller desto besser. Das Geld habe ich erhalten, alles, was du nun tun musst ist, dich genau an den Zeitplan zu halten, den du anbei findest. Lasse diese Nachricht verschwinden, drucke sie aus und lösche sie dann von allen Geräten. Jeder, der diesen Plan zu sehen bekommt gehört tot, genauso wie die, die sich gegen dich wehren. Denk daran, du bist im Recht.

Kathi zögerte. Sie hatte ein ungutes Gefühl, dennoch drehte sie das Blatt, um den angekündigten Plan auf der Rückseite begutachten zu können. Eine Liste von Namen füllte den oberen Teil des Papiers. Namen, die sie im Gegensatz zum Verfasser der kryptischen Email kannte.

Mika Schneider/weiblich - verheiratet mit Lara Schneider

Thomas Eber/männlich - schwul

Danilo Mertens/männlich - schwul

Tessa Lobe/weiblich - bisexuell

Kathi zuckte zusammen. Sie konnte sich diese seltsame Anordnung nicht erklären. Sie kannte diese Leute, besonders mit Tessa war sie gut befreundet, Mika und Lara waren öfters zum Skaat Spiel mit ihren Eltern verabredet gewesen. Sie hatte keinen Schimmer, was ihre Sexualitäten auf dieser Liste zu suchen hatten. Noch nicht.

Die Entlassungsschreiben sind vorbereitet. Alles, was du tun musst ist, sie abzuschicken. Fristlos.  Sollten die dunklen Mächte dich aufsuchen, schicke sie weg. Mit ihnen zu sprechen könnte dich infizieren, dich einlullen und du willst das Ende der Welt nicht, oder? Also reiß dich zusammen und hab deine Waffe immer bei dir. Die LGBTQ+ Community darf nicht übernehmen. Sollten die vier Zielpersonen sich nicht ihrem verdienten Schicksal hingeben wollen, so greif zu den drastischen Maßnahmen, die wir besprochen haben. Du kennst meine Kontakte, die Ermordung geht schnell und spurenfrei.

Grüße und informiere mich, wenn die Operation abgeschlossen ist.

Georg Flint

Das konnte nicht sein, es musste eine einfach Erklärung für diesen Müll geben. Ihre Eltern, insbesondere ihr Vater, konnten keine homophonen Drecksschweine sein. Psychic - Eine brutale Organisation? Und ihre Familie mittendrin.

Kathi vergaß ihre eigene Würde, ihren Stolz, sie fühlte nichts als Scham und Wut.

Hastig knüllte sie das Papier zusammen und steckte es zurück in ihre Jeanstasche. Sie musste etwas tun, zur Polizei gehen und das Ganze beenden, bevor der grauenhafte Plan in die Tat umgesetzt werden konnte. 

Es war schon weit nach Mitternacht, aber Kathi konnte nicht schlafen. Sie wollte jetzt helfen. Das Haus war still, dennoch war ihre Angst riesig, als sie sich die Treppe hinunterschlich. Das Wohnzimmer war abgedunkelt und kalt, ebenso die Küche. Der Haustürschlüssel steckte.

Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Schnell drehte sie ihn und die Tür ging auf. Im selben Augenblick ertönte ein ohrenbetäubendes dröhnen, eine Sirene, von der Kathi nicht gewusst hatte, dass es sie gab.

Instinktiv presste sie sich die Hände auf die Ohren. Im Flur ging das Licht an, auf dem Treppenabsatz stand ihr Vater, die Pistole auf sie gerichtet. Keine Sekunde länger stand Kathi im Türrahmen. Sie rannte los, hinter sich die ersten Schüsse. Der Krug neben der Türmatte, in den ihre Mutter Blumen gepflanzt hatte zerbrach mit einem Klirren.

Sie konnte sich gut an den heißen Tag im Sommer erinnern. Die ganze Familie hatte eine Reise in die Türkei unternommen. Dort auf einem Markt hatte ein älterer Herr mit Kamelhaarjacke seine Töpfereien zur Schau gestellt. Nachdem er sich ihnen minutenlang aufgedrängt hatte landete einer seiner grob gefertigten Krüge im Familienbesitz.

Doch diese idyllische Zeit war Vergangenheit, wie Kathi nun schmerzlich feststellen musste. Zerbrochen, wie der Krug auf der Veranda. 

Keuchend bog sie eine ihr fremde Straße ab, ihre Beine und Ohren schmerzten. Hinter ihr hörte sie die Schritte. Sie wusste nicht, wer genau ihr folgte, aber sie war sich sicher, dass er sie um keinen Preis am Leben erhalten wollte.

Immer wieder wiederholten sich die Sätze der Nachricht in ihren Gedanken.

Mit ihnen zu sprechen könnte dich infizieren, dich einlullen und du willst das Ende der Welt nicht, oder? 

Einen so grausamen Satz hatte sie noch nie gelesen.

Schwer atmend rannte sie weiter, rannte um ihr Leben. Hatte Marco diese Papiere gesehen? Wahrscheinlich, doch diesmal war es anders. Diesmal mussten ihre Eltern sich selbst um das Problem kümmern, selbst die Drecksarbeit erledigen.

Sie konnte nicht mehr, ihr ganzer Körper sträubte sich gegen jede weitere Bewegung. Ihr Kopf wollte nicht wahr haben, dass dies nun ihr Leben war, ihre Familie, die, die sie großgezogen haben. 

Kathi konnte es nicht begreifen. Aber es standen Leben auf dem Spiel. Leben, die ihr lieb waren. Und so zwang sie sich, weiterzulaufen, bis zur Hauptstraße der Stadt. Dann blieb sie stehen. Noch immer fühlte sie sich nicht sicher, noch immer hörte sie die Schritte.

Doch jemand stand ihr im Weg. Jemand, der ihr seine bewaffnete Hand entgegenstreckte.

Sie konnte sein Gesicht im Licht der flimmernden Straßenlaterne gerade so erkennen. Der Mann im Anzug, der vor ihr stand erinnerte sie an jeden Bond Film, den sie gesehen hatte. Die Haare locker zurückgekämmt, mit Gel verschmiert, eine gehobene Augenbraue und ein schiefes Lächeln, das ihr Angst einjagte.

Kathi kannte diesen Mann nicht, aber er kannte sie.

Und sie konnte sich denken, wie sein Name war. Der Mann ließ seine Waffe sinken und sah sie freundlich an, seine Augen schimmerten über den Blick hinaus bösartig und teuflisch.

"Hallo, du musst Katharina sein", sagt er.

"Ich bin Georg Flint, es ist mir eine Ehre!"


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