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Siehst du ihn nicht?
TheBoringAward

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Da saß er nun, hing, könnte man sagen auf den dreckigen Fliesen des Bahnhofs Zoo in Berlin. Dort, wo noch vor Minuten ein betrunkener junger Mann auf den Boden gerotzt hatte, wo Leute achtlos ihre Zigarettenstummel austraten, bevor sie die Nichtraucherzone passierten.

Ivolan war ein Teil des Abfalls, der die Stadt in den Dreck zog und immer wieder erinnerten ihn die grausigen Gestalten mit den ausgemergelten Gesichtern und den Gürteln an ihren Oberarmen daran.

"Hey, Ivo, rutsch mal ein Stück", grummelte die ihm vertraute Stimme. Vertraut wäre zu viel gesagt. Ivolan kannte den Methdealer nur unter dem Namen "The Skunk". Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich gedacht, dass Skunk offenbar nicht gut Englisch sprach und die Bedeutung dieses Künstlernamen eindeutig unterschätzte.

Ivolan rutschte wie gefordert ein Stück zur Seite, um Skunk auf der zerschlissenen Yogamatte, dessen türkise Farbe einem schmierigen braun gewichen war, Platz zu machen. Über ihnen bretterte ein Schnellzug durch die große Bahnhofshalle über ihnen. Ein Geräusch, dass diesen Ort von der kompletten Verwahrlosung abhielt.

Es versprach Hoffnung, Lebendigkeit und ließ Ivolan von weiten Reisen träumen, die er nie antreten würde.

An der gegenüberliegenden Kachelwand lehnte Martin und hantierte ungeschickt mit einer Spritze. Seine Hände zitterten so stark, dass ihm das Instrument der Begierde aus der Hand fiel. Normalerweise wäre Ivolan aufgestanden und hätte Martins Hand geführt, aber wenn Skunk neben ihm saß konnte er das nicht tun.

Das hier könnte ein guter Deal für ihn werden. Mitleid und Zusammenhalt waren in der Szene allgemein verpönt. Das hatte er über die harte Tour und massive Verletzungen erfahren müssen.

"Was hast du für mich Skunk?", murmelte er. Ivolan hatte immer ein Problem damit, die Geschäfte auf offener Straße bzw. im zugänglichen Tunnel abzuwickeln. Dort, wo jeder ihn sehen konnte, als schriee nicht sowieso schon alles an ihm, von den zerzausten Haaren, bis hin zu den ausgetretenen Turnschuhen, dass hier ein armer Mensch, ein Lappen, ein unerwünschter Teil der Gesellschaft hockte.

Skunk schüttelte sachte den Kopf und steckte sich eine Zigarette an. Ivolan wandte sich ab. Er konnte den beißenden Rauch der Selbstgedrehten nicht ertragen.

"Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten, mein Junge."

Er richtete sich grunzend auf. Ivolan runzelte die Stirn. "Was denn?"

"Man hat mir über ein Hilfsnetzwerk eine Stelle als Putzkraft in einem Büro vermittelt." Skunk macht eine kurze Pause. "Ich bin raus."

Es wirkte fast so, als würde er lächeln, ein äußerst seltenes Schauspiel.

"Oh", machte Ivolan und spürte über sich die Welt zusammenbrechen, untermalt von der Musik der Züge.

"Ivo, darf ich dich fragen, wie alt du bist?"

Erschrocken über diese ungewöhnlich persönliche Frage zuckte er zusammen. Irritiert versuchte er Skunk die Motivation dahinter aus dem rundlichen Gesicht abzulesen, aber er konnte es nicht.

"Neunzehn", sagte er also.

"Ich bin 52 Jahre alt. Wenn ich es schaffe, dann schaffst du es auch!"

Skunk klopfte ihm auf die Schultern und stand auf. Langsam schritt die eindrucksvolle Figur in Richtung Tunnelausgang. Dort hin, wo das Licht der Straßenlampen und Autos bereits auf ihn warteten. Das Licht der Freiheit, das die flackernden Neonröhren des Tunnels nie würden ersetzen können.

Mit einem seltsam zornigen Gefühl im leeren Magen sah Ivolan ihm nach. Dann warf er einen scheuen Blick zu Martin, der die Spritze einige Meter von sich geschleudert hatte und nun auf seiner Fließdecke eingeschlafen war.

Entschlafen womöglich?

Ivolan seufzte. Er könnte es Martin nicht verdenken.

Das Leben in den nächtlichen Eingangstunneln war kaum als Leben zu bezeichnen. Ein spärliches Dasein, wie ein Hund im Käfig, gezwungen, auf ewig zu bleiben.

Der Tod war hier ein alter Freund. Ein alter Freund, den nur die meisten schon einmal gesehen hatten. Ein Freund, der die Sehnsucht in Ivolans Gedanken erweckte.

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