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Psychic
crazy-Bffs

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Kathi stutzte. Sie wandte sich um und hastete den Weg zurück, den sie gekommen war. Er war real, definitiv. Niemals wäre ihre Fantasie groß genug gewesen, um sich so etwas einzubilden.

Sie bewegte sich auf die öffentlichen Toiletten zu, die mit großen Symbolen an den Fliesenwänden ausgeschildert waren. Eilig stieß sie die Tür auf und schlug sie hinter sich zu.

War sie eigentlich verrückt? Ein Mann mit einer Waffe verfolgte sie, seit ihr kleiner Bruder aus dem Fenster gestürzt war?

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Die Gestalt kam eiligen Schrittes auf sie zu und Kathi schrie auf. "Keine Angst", raunte ihr die vertraute Stimme der Person zu. Sie war tief und sonor, wie am Tag zuvor auf der Straße auch.

"Wer sind Sie?", hauchte Kathi und presste sich zitternd an die Waschbeckenreihe hinter ihr. "Sie haben mich nicht bezahlt", sagte die Gestalt und hielt inne. "Also werde ich ihr kleines Geheimnis ausplaudern."

"Wer?", fragte Kathi verwirrt, nachdem sie ihre Stimme wieder gefunden hatte. "Verdammt, wer sind Sie, was wollen Sie von mir?"

Sie meinte, ein verschmitztes Lächeln unter der Kapuze zu erkennen.

"Deine Familie ist brutaler, als du meinen würdest."

"Sie meinen, riesengroße Arschlöcher? Danke, das wusste ich schon. Jetzt lassen Sie mich in Ruhe...Oder erschießen Sie mich endlich."

Inzwischen war es ihr auch egal.

"Den Gefallen tue ich ihnen nicht. Ich weiß, dass du ihnen ein Dorn im Auge bist, jetzt erst recht..."

Kathi atmete tief ein und aus.

"Sie haben mich damit beauftragt, ihn umzubringen, den kleinen Marco. Leicht, wie eine Feder, der Junge, ich musste ihn einmal am Kragen packen und seinen Kopf gegen die Wand schlagen. Der hat Sternchen gesehen, das glaub mir. Und sich mit Gehirnerschütterung an einem Vorhang festhalten? Scheiß Situation, wenn du mich fragst. Er wusste ihnen zu viel..."

"Wer?", fragte sie wieder. "Zeigen Sie sich doch, wer hat ihn umgebracht?"

"Oh, ich tue hier nichts zur Sache. Aber womöglich solltest du deine Eltern mal hinterfragen." Ihr Gegenüber lachte höhnisch. Der raue Ton hallte in dem kleinen Raum zwischen den Fliesen wider. Kathi fuhr sich durch die Haare. "Das ist unmöglich, sie haben Marco geliebt, okay? Ich weiß, Eltern haben kein Lieblingskind, aber meine schon und es war definitiv mein Bruder. Sie wären nicht im Stande - "

"Liebelein, glaub mir, sie sind es. Und nun entschuldige, ich habe noch zu tun."

Mit diesen Worten ließ der unheimliche Mann sie alleine in den Waschräumen stehen. Kathi schüttelte noch immer den Kopf. Gestern Morgen war ihr Leben wie jedes andere gewesen. Doch heute sollten ihre Eltern korrupte Mörder sein. Und Marco wusste zu viel. Aber was?

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, bei dem Gedanken an die Wahrheit. Konnte sie diesem fremden Mann, der behauptete, ihren Bruder umgebracht zu haben überhaupt trauen?

Kathi beeilte sich, die Toiletten zu verlassen. Inzwischen waren die Läden geöffnet und einige wenige Leute liefen umher, lachten und redeten, als wäre Tags zuvor niemand gestorben, als hätte die Stadt nicht ihr dunkles Gesicht gezeigt, nur um es sogleich wieder zu vergessen.

Alle hatten Marco schon vergessen. Wie selbstbezogen ihre Mitbürger doch waren. Sie verließ das Center und ging nach Hause. Der Himmel hatte sich gelichtet, nur vereinzelte Wolken erinnerten an die Düsternis dieses Tages.

Als sie das Haus betrat war es still. Ihre Eltern waren in der Firma, wie jeden Samstag. Ohne zu zögern rannte sie in das Büro ihres Vaters. Sie wusste, dass unter dem Schreibtisch ein Safe war, den sie noch nie gesehen hatte. Auch den Aufenthaltsort des dazugehörige Codes kannte sie nicht.

Doch sie war sich sicher, dort eine Antwort zu erhalten. Eine Antwort auf die Unmengen an Fragen, die in ihrem Kopf umher schwirrten.

Tatsächlich befand sich unter der letzten Schublade des massiven Holzklumpens, der sich Schreibtisch schimpfte ein Tresor. Vergeblich rüttelte sie an der stählernen Tür. Das Drehschloss rührte sich keinen Millimeter.

Von der Tischplatte grinste sie Marco aus dem geschwungenen Bilderrahmen heraus an. Fieberhaft kaute sie auf ihrer Lippe herum, willig an die nötigen Informationen ranzukommen. Nur ein Bogen Papier, der das Gegenteil der These bewies würde sie umstimmen, könnte die unglaubliche Schwere in ihr beenden.

Der Computer leuchtete auf. Neugierig näherte Kathi sich. Am Bildschirm klebte ein Zettel, auf den lieblos eine Folge an Buchstaben und Zahlen gekritzelt war.

Bingo.

Kathi beeilte sich, das augenscheinliche Passwort in die entsprechende Leiste einzugeben. Jetzt würde sie sich Klarheit über die Situation verschaffen können.

Doch sie hatte nicht mit dem roten Kreuz gerechnet, das plötzlich den Bildschirm zierte.

Eingabe nicht korrekt

Wie hatte sie nur so blöd sein können? Natürlich hängte ihr Vater nicht einfach seine Passwörter in sein Büro. Er mochte ein Arschloch sein, aber dumm war er nicht.

Frustriert rüttelte sie an dem Flachbildschirm, was erwartungsgemäß nichts änderte. Dann fiel ihr Blick auf den Stapel Papier, der unter einem Briefbeschwerer aus Metall lag. Hastig begann Kathi die Blätter zu durchwühlen. Neben Rechnungen und Briefen ihrer Großmutter fand sie nichts.

Es konnte doch nicht sein, dass sie hier keinen einzigen Hinweis finden würde. Nichts, das auf ein Verbrechen hindeutete. Genervt trat sie gegen den Safe. Es knirschte und ratterte und ein Schmerz durchzog ihren Fuß. Fluchend stolperte sie rückwärts und hielt sich am Drehstuhl fest, der prompt von dannen rollte.

Ein Piepen ertönte, dann glitt die Tür des Sicherheitsschrankes auf und gab den Blick auf eine kleine blaue Tasche und einen Hefter frei. Sie wusste nicht, was passiert war, dennoch krabbelte sie zu, auf das, was sie sah.

In dem Moment, als sie sich die Papier griff und anfing, darin umherzublättern spürte sie kaltes Eisen an ihrem Hinterkopf.

Erschrocken fuhr sie hoch. Die Kälte an ihrer Haut veränderte sich nicht. Unschlüssig ließ sie den Hefter fallen und hob die Arme. Zitternd starrte sie auf den staubigen Teppichboden.

"Was hast du gesehen?", fragte ihr Vater und entsicherte die Waffe am Kopf seiner Tochter.

Kathis Augen weiteten sich. "Papa? Was-"

"WIEVIEL?", fragte er mit Nachdruck. "Nichts, wovon sprichst du? Bist du verrückt geworden?", schrie sie und drehte sich um, direkt in den Lauf der Pistole starrend. Ihr Körper verkrampfte sich.

Ihr Vater stand dort, ohne eine Mine zu verziehen. Seine Hand mit der Waffe war ganz ruhig, als wäre ihre Tödlichkeit sein kleinstes Problem.

"Schwörst du es?"

"Ja!"

Panisch verfolgte sie seine Bewegungen. Er griff mit seiner freien Hand über sie und knallte den Schrank zu. "Ich will dich nie wieder in diesem Raum sehen, hast du das verstanden? In diesem Safe sind Dinge, die wichtiger sind, als du!"

"Ich bin deine Tochter!", hauchte Kathi mit einem plötzlichen Anflug von Schwindel. Ihr Vater sicherte die Waffe und steckte sie in seinen Hosenbund.

"Du weißt nicht, wie grundegal mir das ist."

The Shortest StoriesWhere stories live. Discover now