10.

99 16 17
                                    

Für Schlauer Fuchs Schreibwettbewerb
sweet_predator
Cover von Jackie_Legend

Für Schlauer Fuchs Schreibwettbewerbsweet_predator Cover von Jackie_Legend

Oops! This image does not follow our content guidelines. To continue publishing, please remove it or upload a different image.

Das Ufer der Moldau

******

Die Leute sagen, man solle den Kopf nicht in den Sand stecken. Aber was nützt dieser Ratschlag, wenn man sich ohnehin ertränken will.

Die Wälder waren bereits in tiefrotes Dämmerlicht getaucht, als sie durch die verwachsenen Wege schritt. Milas Kopf war leer, geleitet von einem einzigen Gedanken, wie schon seit Tagen.

Das Rauschen des Flusses lag bereits in ihren Ohren. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Entscheidung, die sie getroffen hatte. Sie atmete tief ein und aus, nahm den Geruch des Harzes und der kühlen Abendluft wahr.

Schritt für Schritt bahnte sie sich ihren Weg an das verwachsene Ufer. Schließlich lag die Moldau vor ihr. Mit einer tödlichen Geschwindigkeit riss das Wasser alles mit sich, was ihm in die Quere kam.

Und Mila war fest entschlossen, heute ein Teil des Flusses zu werden.

Seufzend ließ sie sich auf einem Baumstamm nieder, der von den Stürmen der letzten Tage umgerissen worden sein musste. Ein Windstoß wirbelte das frühe Laub auf, das seit wenigen Wochen wieder die Straßen zierte.

Eigentlich mochte Mila den Herbst, doch diesen wollte sie nicht mehr sehen. Nicht nach allem, was passiert war. Das Wasser floß an ihr vorüber, wie ein wildes Tier auf der Jagd. Ohne Hemmungen, ohne Reue.

Es erinnerte sie an Cody. Sie hatte ihn am Moldauufer kennengelernt. In der Altstadt war sie ihm in die Arme gelaufen. Mila hätte sich damals nicht träumen lassen, dass der attraktive junge Mann, dem sie noch im selben Augenblick verfallen war, ein Jahr später der Auslöser für ihren Selbstmord sein sollte.

Cody. Augen, so kalt, wie die Fluten vor ihr. Und nicht nur das. Auch seine Seele glich der Dunkelheit, die unter der Wasseroberfläche lag.

Damals nahm er sie an der Hand, doch dann ließ er nicht mehr los.

Das erste Mal, dass er seine Hand nicht in ihre, sondern an ihre Kehle legte, hatte etwas in ihr ausgelöst.

Angst. Scham? Den Wunsch nach Erfüllung und Liebe.

Doch weit gefehlt. Cody war nicht, wie die anderen. Kein Schläger, der sein Opfer hypnotisierte, kein brutaler Partner. Er war gefühlskalt.

Cody konnte nicht lieben. Die Bezeichnung Liebhaber war völlig unpassend. Er war ein Killer, bereit, zu töten, wenn er das Interesse verlor.

Und so hatte Mila ein Leben ohne Würde geführt. Als hätte man sie unter Wasser getaucht.

"Hast du schonmal versucht, unter Wasser zu schreien? Oder auch nur irgendetwas zu sagen?", fragte sie eines Tages ihre Schwester Aliha. Diese schüttelte den Kopf, noch während Mila weitersprach.

"Es geht auch nicht. Du kannst deine Stimmbänder noch so sehr strapazieren, der Einzige, der dich hört, bist du selbst. Und zwar so laut, dass alles andere um dich herum verstummt."

Das war nun wenige Monate her. Aliha hatte nichts mit dieser Information anzufangen gewusst. Doch bald würde sie das tun. Sie war eine von denen, die mit dem Kopf an der Oberfläche schwammen, das Geschrei der Ertrunkenen nicht hörte.

Man verstand es immer erst dann, wenn die Leiche aus dem Wasser gezogen wurde.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Die Wellen glitzerten im Mondschein, so wie in der Nacht, die sie hergeführt hatte.

Cody hatte sie auf ein Date eingeladen.

Er nannte es Date. Sie nannte es Treffen zweier Unbekannter, die sich nie wirklich begegnen würden.

Dann hatte er sich über sie hergemacht, wie eine Herde Wildtiere. Ihre Schreie waren in den Wäldern untergegangen, als er wieder und wieder ausholte, das Dröhnen lauter und lauter wurde, als nur noch das Rauschen der Moldau in ihren blutigen Ohren lag.

Wer hätte gedacht, dass ihr Lieblingsort so schnell zu ihrem verhasstesten Platz auf dieser Erde hatte werden können.

Als Cody endlich von ihr abgelassen hatte, ließ er sie zurück. Alleine in der Dunkelheit mit den Geräuschen des Wassers.

Wasser war stark. Und Mila war es nicht. Wie schwer konnte es sein, jemanden anzuzeigen, sich Hilfe zu holen?

Ich wünschte, ich wäre wie du, dachte sie mit Blick auf die Moldau. So anmutig und abschreckend von außen. So gefährlich dahinter.

"Ich werde sein, wie du!", murmelte Mila und stand auf.

"MILA!", ertönte seine Stimme. Sie konnte die Richtung nicht einordnen, aber es war ihr Stichwort.

Mila. Freundlich. Gnädig. Gütig.

"Sei einmal gnädig zu dir selbst."

Sie würde das beenden, was er angefangen hatte. Das Leben, das sie so hasste, war durch ihn entstanden und würde durch sie an den Ufern der Moldau verschwinden.

Dann sprang sie.

The Shortest StoriesWhere stories live. Discover now