Kapitel 28

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Kapitel 28

Es war ein Wunder, wie wir atmeten.
Ganz natürlich, ohne einen Gedanken darüber verschwendet zu haben, dass uns jeder Atemzug näher zu unserem letzten führte. Und doch wurde uns immer wieder beigebracht, dass wir uns einzig auf unseren Atem konzentrieren sollte, wenn mal alles zu viel wird.
Wir konzentrierten uns also darauf, das unsichtbare Korsett, welches sich tagtäglich um unseren Körper schlang, zu ignorieren. Von Erwartungen und Ängsten gefüttert, schmiegte es sich immer schneller und enger an uns - schließlich ging es immer noch ein Stückchen passender und jeder noch so kleine Millimeter müsste genutzt werden. Doch kurz bevor es uns vollkommen den Atem raubte, stoppte es, sodass wir es gerade noch so schafften weiter zu existieren.
Während wir uns also für diesen einen Moment uns unserer ganzen Existenz und ihrer Endlichkeit bewusst wurden, merkten wir gar nicht, dass selbst unser Atem uns niemals von dem Korsett befreien könnte.

Atmen hilft uns somit nur für einen kurzen Augenblick dieses elastische Mieder, welches von der Gesellschaft als schon so selbstverständlich angesehen wurde, auszuweiten, doch früher oder später schnürt wird es uns die Luft zuschnüren.

Hechelnd tauchte ich aus dem gigantischen Schwimmbecken auf. Mein Körper rang nach Luft, wie eine Mücke nach Luft. Höchstens 20 Sekunden war ich unter Wasser und trotzdem fühlte sich meine Lunge so an, als hätte sie stundenlang auf Sauerstoff verzichten müssen. Ich wusste nicht wirklich, warum es mir so schwerfiel lange die Luft anzuhalten, weder rauchte ich, noch tat ich Dinge, die meine Lungenfähigkeit in negativer Weise beeinflussten. Vielleicht war es auch einfach der Gedanke, mich für kurze Zeit gegen das natürliche System meines Körpers aufzulehnen. Denn ein System ließ sich schließlich nie ohne Opfer zerstören.

Ich presste meine Handflächen auf den Beckenrand und zog ein Bein hoch, sodass ich ziemlich unelegant zum Beckenrand robbte und schlussendlich zum Stehen kam.
Am Ende der Halle befand sich ein großer Spiegel, den ich unverzüglich dafür nutze, um meine Figur zu begutachten. Ich bildete mir ein, etwas zugenommen zu haben, denn mein Bauch ragte etwas mehr heraus und auch meine Beine schienen etwas kräftiger geworden zu sein, was mich nicht wunderte, bei all den Köstlichkeiten, die ich hier zu jeder Essenszeit verschlang.
Mein Blick schwing von meinem Ebenbild zur Uhr herüber. 8:05. Ich hatte also zum Glück noch etwas Zeit, bis zur Verkündung der nächsten Aufgabe.
Normalerweise bekam mich um diese Uhrzeit noch niemand aus dem Bett geschmissen, doch heute Morgen gelang es mir einfach nicht mehr wieder ins Land der Träume zu verfallen, sodass ich beschloss zumindest etwas Produktives zu tun und ein wenig Sport zu machen, wenn ich sowieso schon nicht mehr einschlafen konnte. Der gestrige Abend und der Gedanke daran, dass ich mich heute erneut unter den Auszuwählenden beweisen musste, spielten bei meinen Einschlafproblemen sicher auch eine entscheidende Rolle.

Vorsichtig tastete ich mich auf dem nassen Boden zu den Duschen, die zu meiner Erleichterung leer waren. Ein weiterer Grund für meinen frühen Morgenausflug war, dass ich die Kabine ganz für mich alleine hatte und mich demzufolge auch nicht vor anderen für meinen Körper genieren musste.

Das warme Wasser prasselte auf meine Haut ein und für einen Moment vergaß ich, wo ich mich überhaupt befand.
Ich fragte mich, was die Anderen wohl gerade denken mussten. Ob sie daran glaubten, dass ich den Job bekomme? Ich wusste noch nicht mal selbst, ob es eine gute Entscheidung war, hier mitzumachen. Doch dann erschien dieses eine Gesicht in meinem Kopf auf, das mir allen Grund gab diese Frage mit einem Ja zu beantworten. Mein Bauch durchfuhr ein ganzer Schmetterlingsschwarm, sowie jedes Mal, als ich an Leandro dachte. An seine weichen braunen Haare, die ich so oft kraulte, wenn er auf meiner Brust lag. Sein Lächeln, was sein sonst so ernstes Gesicht mit einem Augenblick erhellte und seinen linken Schneidezahn zum Vorschein brachte, den er sich in seiner Kindheit bei einem Fahrradsturz mal abgebrochen hatte. Und natürlich seine dunkelblauen Augen, die mich jedes Mal aufs Neue in eine Art Trance fallen ließen.
In der Realität waren Leandros Augen jedoch einfach kritisch. Er sah sich selbst nicht so, wie ich ihn sah. Immer wieder betonte er, dass seine Hände viel zu klein, die Nase zu groß und der abgebrochene Zahn zu auffällig seien. Es ist lustig, dass mir viele dieser Merkmale gar nicht aufgefallen wären, hätte er sie nicht erwähnt, was ironischerweise auch mir dabei half etwas weniger kritisch gegenüber meinem Äußeren zu sein.

Perfect LieWhere stories live. Discover now