Kapitel 3

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Kapitel 3

Nach einer gefühlten Ewigkeit, unzähligen Bildern und Videos von Männern und Frauen, mit den verschiedensten äußerlichen Merkmalen, war dann Abschnitt 1 des Tests beendet, welcher sich mit meiner Sexualität und äußerlichen Vorlieben beschäftigte.

Ich habe mein Zeitgefühl komplett verloren und ich merkte, wie erschöpft ich war, denn die Substanz die auf meinen Hals geschmiert wurde, bewirkte dass mein Gehirn 10x stärker auf die visuellen Reize reagierte als im Normalfall. Dies war nötig, um ein klareres Testergebnis zu erhalten, wie mir Josh soeben erzählt hat.

„Josh, kann ich Sie was fragen?", überrascht drehte er sich um, und schaute mich interessiert an. „Natürlich, ich bin dein Betreuer und werde dafür bezahlt, dass du dich wohlfühlst, also frage alles, was dir auf dem Herzen liegt."

„Wird irgendjemand von dem, du weißt schon, der Sache mit Livs Freund erfahren? Und wird das irgendwie Einfluss auf den Test nehmen?", fragte ich zögerlich.

„Juliette. Von dem „du-weißt-schon-das-mit-Livs-Freund" wird niemand außer mir und dem Programm erfahren, versprochen. Ich kann auch probieren es zu vergessen, wenn du möchtest, aber keine Garantie dabei", er lächelte mich an, „und natürlich wird das Einfluss auf den Test nehmen, aber nicht im negativen Sinne, falls du das denkst. Es ist nicht verboten, für jemand anderes zu schwärmen, bevor man seinem Partner zugewiesen wird. Aber richtig lieben können, wirst du erst, wenn du deinen perfekten Partner hier durch das Verfahren gefunden hast.", er strahlte so etwas Ruhiges und Friedliches aus, das mir gar nichts anderes übrig blieb, als meine Nervosität abzulegen.

„Ach ja, Juliette", fügte Josh noch hinzu.
„Ich hatte Fantasien mit meiner damaligen Mathelehrerin, und da waren deine nichts gegen", er erröte unmerklich und ich wusste erst nicht, was ich darauf antworten sollte, doch dann prusteten wir beide einfach los und ich ging wesentlich beruhigter zum Speisesaal.

Langsam machte sich auch mein Magen mit einem lauten Knurren bemerkbar und ich war froh, dass nun für alle Teilnehmer eine Pause angesetzt war.
Als ich endlich einen Platz im Speisesaal 132 gefunden habe, ließ ich mich auf den Stuhl fallen und atmete tief durch. Die ganzen Eindrücke waren erst einmal zu verarbeiten. Plötzlich beugte sich ein bekanntes Gesicht vor mich. „Naomi!", rief ich und umarmte sie fest. Ihre glatten, braunen Haare waren ein wenig verwuschelt, aber trotzdem sah sie aus wie ein kleines Model. Ihr Anblick erinnerte mich an unsere Pyjama-Partys, wenn wir mal wieder eine Kissenschlacht starteten und ich alles gab, um zu gewinnen – manchmal musste dann auch eine Vase dran glauben. Wir mussten uns oft selber Spiele ausdenken, wenn sie bei mir zu Besuch war, da wir in nicht so wohlhabenden Verhältnissen lebten und sich dies eben auch in unserer Wohnung widerspiegelte.

Nach dem Test bekommt zwar jedes Paar eine riesige, luxuriöse Wohnung gestellt, doch sobald das erste Kind auf die Welt kommt, muss das Paar umziehen, damit die Wohnung für ein neues Paar frei wird. Das Paar wird nun einer Wohnung oder einem Haus zugeteilt, welches deren bisherigem Gehalt entspricht. Da sich meine Eltern dazu entschieden haben ihren Traum zu verwirklichen und eine kleine Buchhandlung zu eröffnen, hielt sich ihr Einkommen leider in Grenzen, sodass ihnen eine eher weniger luxuriöse Wohnung zugeteilt wurde.

Naomis Haus war das komplette Gegenteil. Jedes Mal, wenn ich zu ihr kam, hatte ich Angst etwas kaputt zu machen oder irgendeinen versteckten High-Tech-Mechanismus auszulösen. Ehrlich gesagt, war ich schon immer ein bisschen neidisch auf sie und ihr Leben. Sie sah aus wie ein Model, mit ihren dunkelbraunen Augen, braunen Haaren und dunklen Teint. Bei ihrer grazilen Sanduhr-Figur, die schon viele Jungs um den Verstand gebracht hat, will ich gar nicht erst anfangen. Außerdem lebte sie in einem wunderschönen Haus, hatte einen Freund, und allgemein, irgendwie schien alles perfekt an ihr. Aber natürlich wusste ich, dass es nicht so ist, denn ich wusste etwas von ihr, das sonst niemand anderes wusste, und ihr perfektes Leben im Nu alles andere als perfekt machen könnte. Doch manchmal vergaß auch ich das und ließ mich von dem Schein des perfekten Lebens trüben.

Naomi setzte sich neben mich und wir redeten ausgiebig über unseren bisherigen Test. Aus dem Augenwinkel erkannte ich drei Mädchen, welche nach freien Plätzen Ausschau hielten und dann unseren Tisch bemerkten, an dem noch genau drei Plätze frei waren.

Dafür, dass der Saal so riesig war, gab es nur wenige Tische mit wenigen Plätzen, vielleicht fünfzehn insgesamt.

Als die Mädchen näher auf uns zukamen, erkannte ich deren Gesichter sofort, auch wenn ich die drei immer noch nicht voneinander unterscheiden konnte, da alle das gleiche trugen, die gleiche Frisur und die gleichen Edding-Augenbrauen hatten.

Wir saßen nun zu siebt an dem Tisch. Naomi und ich, die drei Mädchen und zwei andere Jungs, die sich aber nicht zu kennen schienen. Plötzlich ertönte eine Durchsage.

„Liebe Teilnehmer und Teilnehmerinnen, ihr habt die erste Phase des Tests absolviert und könnt euch nun am reichhaltigen Buffet bedienen und für die zweite Phase stärken", die Sprecherin machte eine kurze Pause.

Natürlich fing genau in dem Moment mein Magen laut an zu knurren und ein leises Lachen durchfuhr den Saal. Na toll, es gab ja nur Millionen andere Momente in den letzten fünf Minuten, in dem er hätte knurren können, ohne dass jeder es mitbekommen würde.

„Das Buffet ist hiermit eröffnet!", beendete sie ihre Durchsage.

Reichhaltig war definitiv eine Untertreibung. Es gab alles, von Muscheln, Salat, Kartoffeln, bis Obst, Eis und Kuchen. Einzig nach Honig suchte ich vergeblich.
Als ich in meinen Kirschkuchen biss, versank ich im siebten Himmel. Doch nicht nur ich fand Gefallen am Essen, auch meine Sitznachbarn genossen ihr Essen. Nur der rothaarige Junge gegenüber von mir schien ein paar Probleme mit den Muscheln zu haben, die er sich aufgefüllt hatte.
Die drei Mädchen versuchten noch nicht einmal ihr Kichern zu unterdrücken und verunsicherten mit ihrem nervigen Gekichere den Jungen noch mehr, als ohnehin schon. Als er weiter hilflos in der Muschel herumstocherte und von den Mädchen ausgelacht wurde, ging es mir zu weit. Der Junge war offensichtlich peinlich berührt und unsicher, doch die Mädchen machten sich einen Scherz draus, anstatt ihm zu helfen.

„Könnt ihr eigentlich noch was anderes außer Kichern? Vielleicht wollt ihr ihm ja mal helfen", gab ich ein wenig angepisst von mir. Ich hätte ihm auch gerne geholfen, nur weiß ich leider selbst nicht, wie man Muscheln ist.

Die Mädchen wurden sofort still und folgten meiner Anweisung. Ich wusste, dass sie von der Sorte waren, die sich solange stark in der Gruppe fühlen und auf einen Schwächeren rumhacken, bis sie von jemanden zurechtgewiesen werden. Ich konnte solche Leute nicht ausstehen.

„Die sehen nicht nur gleich aus, die sind auch gleich dumm", murmelte ich zu Naomi, doch der andere Junge am Tisch schien es mitgehört zu haben und warf mir ein Grinsen zu. Für einen kurzen Moment trafen meine dunkelgrünen Augen, auf seine klaren blauen Augen, doch dann wendete er den Blick ab und aß schweigend weiter, wie er es schon die ganze Zeit tat. Er schien über irgendetwas nachzudenken.

Irgendwie war es komisch. Jeder hier in dem Saal könnte theoretisch mein zukünftiger Partner werden und jetzt gerade ignorierten wir uns noch und in ein paar Tagen würden wir schon zusammen in eine Wohnung ziehen.

„Hast du Artur eigentlich schon gesehen?", fragte ich Naomi, die nur den Kopf schüttelte und auf den Boden blickte. Ich wusste, was gerade in ihr vorging. „Naomi, mach dir bitte keine Sorgen, der Test wird euch zusammenbringen. Und dann beginnt endlich euer Leben zusammen."
„Ich hoffe, du hast Recht", in ihrer Stimme schwang Verzweiflung und Angst, doch mich ließ das Gefühl nicht los, dass sie mir was verheimlichte.

Die ersten standen mittlerweile wieder von ihren Plätzen auf und bewegten sich Richtung Ausgang. Doch als ein Mädchen die Tür öffnen wollte, bewegte sich diese kein Stück.

„Emily lass mich da mal ran, du musst das mit mehr Kraft machen", ein wesentlich größerer Junge drängelte sich an den Leuten vorbei und ruckelte gewaltsam an der Tür, jedoch ohne Erfolg, die Tür blieb immer noch verschlossen.
„So 'ne Scheiße", fluchte der Junge und tritt gegen die Tür, sodass spätestens jetzt jeder mitbekam, dass irgendetwas nicht stimmte.

Naomi wollte mir gerade etwas zuflüstern, als wir von einer lauten Stimme unterbrochen wurden.

„Phase 2 beginnt jetzt. Viel Glück."

Perfect LieWhere stories live. Discover now