Kapitel 10

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Kapitel 10

„Oh Gott Juliette, was ist denn mit dir passiert", erschüttert nahm sie mich in den Arm, als sie die Tür öffnete. Sie trug den Pyjama, den ich ihr spaßeshalber mal zum Geburtstag geschenkt habe, weil sie ständig meinen klaute.

Ich vermisste es so sehr. Die Zeit, zu der wir noch alle zusammengewohnt haben. Als Liv und ich noch Höhlen gebaut haben, wir aber immer einen Spalt offen lassen mussten, weil ich mich vor der Dunkelheit fürchtete. Und meine Eltern, die sich manchmal wegen komplett banalen Dingen gestritten haben, aber sich dann noch nicht mal einen Tag ignorieren konnten, weil sie sich einfach zu sehr geliebt haben. Ja, sogar die eklige Pizza Hawaii, auf die meine Mutter jeden Monat bestand, vermisste ich auf seltsame Weise. Ich vermisste einfach mein altes Leben.

„Könn- Können wir rau-s", schluchzte ich. Sie nickte und reichte mir ein Taschentuch, in das ich kräftig aus schnupfte. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass das gerade passierte. Mit nur einem Satz würde ich mein ganzes Leben verändern.

Draußen war es schon stockdunkel als wir über die spärlich beleuchtete Straße gingen. Wir setzten uns auf eine Parkbank. Meine Schwester nahm meine Hand und atmete tief durch.
„Juliette, du weißt, dass du mir alles erzählen kannst", ich nickte. „Und du weißt auch, dass ich dich immer unterstützen würde, egal was es ist", erneut nickt ich. „Also, warum bist du traurig?"

Vor nichts habe ich mich mehr gefürchtet, als vor diesem Moment, doch gleichzeitig gab es nichts, was ich mir sehnlicher herbei wünschte. Ich hätte ihr nun die ganze Wahrheit gestehen können - Gestehen müssen. Doch stattdessen fühlte sich so an, als wäre meine Lippen zusammengeklebt und meine Zunge schwer. Aus der Ferne sah ich ein paar Menschen vorbeigehen, ich merkte wie die Zeit vergeht, und jede Sekunde, in der ich es nicht schaffte ihr zu sagen, plagte mich mehr und mehr.

„Bist du schwanger?", fragte sie vorsichtig, „Das ist nicht schlimm, eine Abtreibung tut nicht weh und ist ungefährlich, du musst es nur der Regierung melden", sprach sie mir sanft zu.
Wird man vor seinem 20. Lebensjahr schwanger, muss ein Schwangerschaftsabbruch vollzogen werden, so schreibt es die Regierung vor.
Ich schüttelte mit den Kopf und in dem Moment überfuhr mich plötzlich eine Wut, die ich in der Form lange nicht mehr gespürt habe. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
Woher nahm sich die Regierung überhaupt das Recht ständig über andere bestimmen zu können. Das Recht zu wissen, was andere Menschen glücklich macht.

Plötzlich veränderte sich Livs Gesichtsausdruck, als hätte man einen Schalter in ihr umgelegt. Sie griff mir fest in den Arm. „Nein", finster starrte sie mich an. „Nein", wiederholte sie leiser. In ihrer Stimme lag etwas, was mir Gänsehaut bereitete. Als würden gerade all ihre Emotionen an ihr abbröckeln. Nun war es nicht mehr Liv, die mich anschaute, es war eine kalte Fassade.

Ich hatte keinen Schimmer, was ich sagen sollte. Sie wusste es, anders konnte ich mir ihre Reaktion nicht erklären. „Liv, ich weiß -", das erste Mal löste sich meine Blockade, doch sie unterbrach mich agressiv. „Sei still", fuhr sie mich an. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich wollte einfach nur alles rückgängig machen. Ich hätte es niemanden sagen dürfen und so weiterleben sollen.Vielleicht hätte ich sich an meinem Gefühlen noch etwas geändert.
Gott, ich war so dumm. Was habe ich mir denn für eine Reaktion von ihr vorgestellt. Nichts wünschte ich mir gerade sehnlicher, als die ganze Situation rückgängig zu machen. Ich würde nun mit Theo auf dem Weg nach Hause sein, wir hätten unsere gewöhnliche Abendroutine und alles wäre irgendwie in Ordnung. Stattdessen sitze ich nun hier mit Liv, die mich noch nie so angesehen hatte, wie jetzt.

Liv blickte vorsichtig um sich. „Hast du dein Handy mit?", fragte sie mich plötzlich. Verwirrt nickte ich und reichte es ihr. Sie öffnete mein Handy und inspizierte es, als wäre es ein wichtiges Beweisstück. Dann fummelte sie an einer Stelle herum, als plötzlich ein Klicken ertönte.
„Was hast du da gemacht?", traute ich mich zu fragen. „Erkläre ich dir gleich", wimmelte sie mich ab und deutete mit ihrem Kopf auf einen Pfad, welcher in einen dunklen Wald führte.

Sie würdigte mich keines Blickes und ging entschlossen den Pfad entlang. In meinen Kopf schwirrten tausende Fragen herum und mein Herz pochte bis zum Hals. Ich folgte ihr ohne Nachzudenken und traute auf mein Bauchgefühl. Das Bauchgefühl, welches mir sagte, dass mir Liv niemals etwas antun würde. Doch je länger ich ihr durch den dunklen Wald folgte, desto unsicherer wurde ich mir dabei.

Hier gab es keinen Spalt, der Licht durchließ, wie früher in unseren Höhlen. Hier gab es auch keine lachenden Schwestern, die herumalberten. Im Moment gab es gar nichts, außer die Dunkelheit, Liv und mich. Und natürlich meinen gesunden Menschenverstand, der mich schon die ganze Zeit fragte, was ich hier gerade machte. Ich würde aus diesem Wald nie wieder rauskommen. Dann fiel mir mein Handy ein, was gerade in Livs Besitz war. Langsam überkam mich immer mehr Angst.

Ich weiß nicht, wie lange wie hier schon langgingen, denn ich hatte mein Zeitgefühl komplett verloren. Auf was hatte ich mich hier bloß eingelassen.
„Hier rechts", sagte sie plötzlich, eine Sekunde bevor ich gegen einen Baum knallte.
Danke, nächstes Mal vielleicht ein wenig früher. Als immer noch kein Ziel in Sicht war, blieb ich abrupt stehen. „Liv, wohin zur Hölle gehen wir?", wütend sah ich sie an. Es gab zwar im Moment nur wenige Optionen, ohne sie aus diesem Wald wieder zu gelangen, doch irgendwie würde ich es auch schaffen, wenn sie mir nicht endlich sagen, wohin sie mich führte.
„Juliette vertrau mir, wir sind gleich da", ihre Stimme war nun ein wenig mitfühlender als vorhin, doch zufriedenstellend war ihre Antwort trotzdem nicht. Vor Allem, weil dass unsere Eltern auch immer meinten, als wir noch eine Stunde vom Ziel entfernt waren.

Und dann auf einmal trat eine kleine Hütte in mein Blickfeld,, welche nur bei genaueren Hinsehen vom düsteren Wald zu unterscheiden war. Als wir sie betraten knipste Liv einen Lichtschalter an, welcher die Hütte aber nur minimal erhellte. Alles war darauf ausgelegt diese Hütte nicht zu finden. Wir setzten uns auf eine abgenutzte Couch, welche sich in der Ecke der Hütte befand.
Liv warf mir eine Decke zu, als sie merkte, dass ich zitterte. Ob das an meiner Angst oder der Kälte lag, kann ich nicht sagen, vermutlich an beidem.

„Du empfindest nichts für Theo oder?", mitfühlend sah sie mich an und legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel. Langsam kehrte die Liv zurück, die ich kannte.
„Nein", flüsterte ich. Es war zwar niemand Anderes in der Hütte, trotzdem verspürte ich das Bedürfnis zu flüstern.

„Ich empfinde nichts für Theo."

Es war das erste Mal, dass ich es laut ausgesprochen habe. Diesmal waren es nicht nur Gedanken in meinem Kopf, die ich probierte zu verdrängen. Es war die Wahrheit. Und es tat gut sie auszusprechen.

„Als ich mit dir das erste Mal über ihn geredet habe", sie machte eine Pause, „Da habe ich es gewusst", sie strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte mich an. Zu verwirrt war ich, um zu reagieren „Warum hast du mich hier her geführt, Liv?", ich probierte, das was in den letzten Stunden geschah, zu verarbeiten, um zu reagieren.
Meine große Schwester schmunzelte. „Du dachtest du bist die Einzige, nicht? Dass das Verfahren ausgerechnet bei dir einen Fehler gemacht haben muss?", ich nickte heftig und hörte ihr gebannt zu. „Das ist eine Lüge. Hier treffen sich all die, die so sind wie du. Die, die sich nicht von einem Programm ihr Leben vorschreiben lassen wollen.
Liebe ist keine Wissenschaft und wird es auch niemals sein. Gefühle und Liebe werden niemals berechenbar sein."

So viele Fragen stauchten sich in meinem Kopf an, dass ich nicht wusste, was ich zuerst sagen wollte. Es fühlte sich einfach alles nur surreal an und ich wartete auf den Moment aufzuwachen. Vielleicht gehörte all dies auch noch zum Verfahren, die Situation mit Kyle hatte sich auch verdammt echt angefühlt. Doch eine Frage drängte sich immer weiter nach Vorne.

„Warum weißt du dann von diesem Ort?", fragte ich sie, obwohl ich die Antwort eigentlich kannte. Doch ich wollte sie nicht glauben. Das kann alles gar nicht sein.

„Aus genau diesem Grund, weil Gefühle nicht berechenbar sind", antwortete sie mit einem schiefen Lächeln, doch ich erkannte genau, das sie mir etwas verschwieg.
„Liv ich bin dir gerade mindestens eine Stunde in völliger Dunkelheit durch diesen gruseligen Wald gefolgt, ohne zu wissen was passieren würde und habe dir meine Gefühle anvertraut. Du bist mir die Wahrheit schuldig."

Ein trauriges Lächeln zierte ihre Lippen. „Der Test berechnet keine Menschen, die in dein Leben treten und plötzlich alles Kopf stellen. Dir plötzlich eine Erklärung dafür geben, was du schon die ganze Zeit gefühlt hast."

Ihre Stimme zitterte leicht, doch gleichzeitig leuchteten ihre Augen, als könne sie mir nun endlich von ihrem Geheimnis erzählen.

„Ich habe mich in eine Frau verliebt."

Perfect LieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt