Kapitel 21

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Kapitel 21

Ich raste durch die Wälder. Meine Umgebung verschwamm und aus dem Augenwinkel nahm ich gedämmtes Licht wahr, welches von der Straße links von mir kommen musste. Die Reifen meines Fahrrads teilten die Äste auf dem Weg in zwei, doch ich schenkte nichts von dem wirklich meine Beachtung. Im Gedanken war ich nämlich nicht hier in diesem düsteren Wald, vor dem ich mich jedes Mal aufs Neue gruselte, wenn ich den Weg zur Hütte antrat, sondern bei der Bewerbung. Die Chance sich mithilfe eines Jobs in das Verfahren einzuschleichen.

Fiebernd überlegte ich, wie ich Liv und den Anderen am besten zu verstehen gab, dass ich mich in die womöglich schlimmste Gefahr meines bisherigen Lebens bringen würde. All meine Überlegungen führten mich letztendlich zu dem Ergebnis, dass egal wie ich es machen würde, ich solche eine Nachricht einfach nicht schonend überbringen konnte.

Als die Hütte in Sicht war, beschleunigte ich erneut und legte kurz vor meinem Ziel eine Vollbremsung hin, in der Hoffnung, dass mich der kleine Adrenalinkick von dem ablenken könnte, was mir nun bevorstand.
Stattdessen kam gerade eine andere Ablenkung auf mich zugefahren. Meine Augen verengten sich, um die unbekannte Gestalt zu identifizieren. Entweder war es Noah oder Leandro. Als sich die Person näherte, stellte ich schnell fest, dass es sich um Leandro handelten musste, denn der Fahrradfahrer war recht groß und Noah und Leandro trennte ein gewaltiger Größenunterschied. Ehrlich gesagt habe ich diesen zuerst gar nicht richtig wahrgenommen, weil von Noah eine ziemlich bedrohliche und autoritäre Atmosphäre ausging.
Erst beim zweiten Hingucken fiel mir seine vergleichsweise kleine Größe auf. Ich schätzte Noah auf vielleicht 1.68 Meter.

„Hey", begrüßte mich Leandro mit einem angespannten Lächeln. Ich tat es ihm gleich, doch gleichzeitig brannte diese eine Frage auf meinen Lippen, welche uns wahrscheinlich beiden schon schlaflose Nächte bereitet hatte.
„Ist alles okay?", skeptisch musterte er meinen Gesichtsausdruck.
„Hast du es getan?", fragte ich geradeaus, ohne auch nur eine Sekunde den Blickkontakt auszuweichen.
Erst antwortete er nicht und starrte nur auf mein rotes Fahrrad, welches dringend einen neuen Lack benötigte. Doch dann erhob sich sein Kopf und seine blauen Augen trafen auf meine, die voller Nervosität trotzten.
„Nein."

Ein Schauder lief mir über den Rücken.
Die ganze Zeit bin ich davon ausgegangen, dass wir es zu zweit durchziehen würden. Dass ich mich nicht allein in diesen Wahnsinn stürzen müsste. Ich schaute erneut zu ihm hoch und sein finsterer Blick verriet mir, dass es sich bei seiner Antwort um keinen Scherz handelte. Er fragte mich noch nicht einmal, ob ich mich angemeldet hätte. Entweder war es für ihn einfach belanglos oder er ging schon davon aus, dass sich kein normal denkender Mensch auf solch ein Bewerbungsverfahren unter unseren Umständen einlassen würde. Na toll.

In der Hütte herrschte diesmal eine andere Stimmung. Während sonst der ein oder andere Spruch von Sarah fiel oder sich Liv mal wieder über die Unordnung aufregte, durchzog den Raum eine eiserne Stille. Die Luft schien dicker als gewöhnlich und auch in den Gesichtsausdrücken der Mitglieder spiegelte sich meine Vermutung wider. Fast lautlos taumelten wir zum Esstisch. Ich traute mich kaum, Liv in die Augen zu sehen. Es fühlte sich so an, als hätte ich sie hintergangen.

„Leandro? Juliette? Ihr hattet nun ein paar Tage Bedenkzeit. Teilt uns bitte eure Entscheidung mit. Ich hoffe, ihr habt sie weise getroffen", leitete Noah das Gespräch ein, vor dem ich mich so lange gefürchtet habe. Ich blickte zu Leandro und für kurze Zeit schauten wir uns einfach nur an. In mir vermischten sich Hoffnungslosigkeit und Hoffnung. Akzeptanz und Bitte. Ein kleiner Teil in mir hoffte, dass er es sich nochmal anders überlegt hatte.

„Ich werde nicht teilnehmen. Es tut mir Leid, aber es ist einfach eine zu große Gefahr für uns alle."
Die Hoffnung erlosch. Natürlich. Vor ein paar Minuten, hat er mir ja genau das Gleiche gesagt.
Nun lagen alle Blicke auf mir, Leandros Worte bleiben unkommentiert. 

Perfect LieWhere stories live. Discover now