Kapitel 20

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Kapitel 20

Die Zeiger auf der Uhr schienen sich kaum zu bewegen. Oder zumindest so langsam, dass ich nach gefühlten 20 Minuten immer noch keine Veränderung auf jener wahrnehmen konnte.
Gerade sollte meine Aufmerksamkeit jedoch eigentlich auf dem Schadenfall liegen, den ich zu überprüfen hatte, doch je länger ich an diesem voll gestellten Schreibtisch in meinem Büro saß, welches mit Bildern von den erfolgreichsten Mitarbeitern meiner Firma geschmückt wurde, desto mehr fühlte ich mich wie der wirkliche Schadenfall.

„Juliette, ich schicke dir die letzten Rechnungen des Kundens 'rüber, würdest du die auch nochmal bis zum Feierabend überprüfen?", bat mich meine Kollegin, die ungefähr zur gleichen Zeit wie ich mit diesem todlangweiligen Job anfing.
„Klar, mach das", antwortete ich widerwillig und berechnete schnell, ob ich trotz der Aufgabe noch pünktlich Schluss machen konnte. Genervt seufzte ich. Nein, natürlich würde ich wieder einmal später nach Hause kommen. Doch weniger Zeit zu Hause bedeutet wiederum weniger Zeit mit Theo, was ein Vorteil war.

Ich setzte mich an die Aufgabe und absolvierte sie in Rekordzeit, sodass ich nur 15 Minuten später aus dem Büro zu Theos ins Auto flüchtete.
„Hey, Schatz", begrüßte er mich und zog mich in einen intensiven Zungenkuss.
Inzwischen hatte ich mich damit abgefunden seine Liebe nur auf physischer Ebene empfangen zu können, was letztendlich für uns beide einen guten Mittelweg schuf. Er lebte die Beziehung so, wie er sich sie vorstellte und ich probierte aus der körperlichen Nähe meinen Nutzen zu ziehen.
Ich fühlte mich ziemlich schlecht bei dem Gedanken ihn auszunutzen, aber gewissermaßen tat er das Gleiche. Manchmal fühlte ich mich wie eine Trophäe in seiner großen Sammlung. In seinem Leben stellte er eine Trophäe auf für einen guten Job, eine Trophäe für ein gutes Verhältnis mit seinen Eltern, eine Trophäe für ein gutes Auto und nicht zu vergessen eine Trophäe für eine gute Partnerin, die eben in seine Trophäensammlung passt. Vielleicht probierte ich aber auch einfach nur diese scheußliche Situation schönzureden, um mir meine Schuldgefühle aus dem Gedächtnis zu jagen.

Nach einer kurzen Autofahrt kamen wir dann zu Hause an und es dauerte nicht lange, ehe wir auf dem Küchentisch gelandet waren. Doch in dem Moment, als mir die Stellenanzeige der Regierung in der Zeitung rechts neben mir ins Auge fiel, nahm meine Entspannung ein Ende. Bislang schaffte ich es recht gut das letzte Treffen der „Anderen" zu verdrängen und mich nicht mit der Entscheidung befassen zu müssen, ob ich das Bewerbungsverfahren antrat oder nicht, doch nun wurde ich dazu gezwungen sie mir wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Keine Frage, ich war unglaublich unglücklich mit meiner derzeitigen Situation. Ich verabscheute meinen Job, ich spielte Theo etwas vor und allgemein ist nichts von dem eingetreten, was die Regierung vorausgesagt hatte. Weder wurde ich glücklich, noch erfolgreicher. Denn so langsam ließen auch meine Leistungen im Job nach. Den Schadenfall, mit dem ich mich heute beschäftigte, hätte ich schon vor ein paar Tagen fertigstellen müssen. Und das war durchaus unüblich für mich, da ich eigentlich eine ziemlich strukturierte und zielstrebige Person war. Ich merkte jedoch auch, dass meine Kapazitäten etwas vorzuspielen, nur für die Beziehung mit Theo und gerade noch für meine Eltern ausreichten. Auch noch so zu tun, als würde mein Job genau der richtige für mich sein, überschritt diese Kapazitäten maßlos. Auf der anderen Seite würde ich mich jedoch in große Gefahr wiegen, wenn ich dieses Bewerbungsverfahren antrat, was noch nicht einmal zwangsläufig bedeuten würde, dass ich es überhaupt bestehen würde. Und angenommen, ich würde es sogar schaffen, wer versichert mir dann, ob wir das System wirklich veränderten könnten.
Es ist bloß die mickrige Chance, welche Noah riesige Hoffnung bescherte. Faktisch gesehen wäre es einfach nur lebensmüde, wenn ich mitmachen würde, denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie durch mich von den „Anderen" mitkriegen würden. Doch, wie sollte es auch anders sein, zog mich mein Inneres natürlich immer weiter zu der Entscheidung, es zu versuchen. Denn wenn es auch nur eine kleine Chance dafür gäbe, Menschen zu helfen, die sich in einer ähnlich unglücklichen Situation wie ich befanden, dann würde ich es versuchen.

Perfect LieWhere stories live. Discover now