Kapitel 16

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Kapitel 16

„Irgendwie ist es zur Tradition geworden, Nudeln mit Tomatensauce zu essen, wenn ein neues Mitglied der Gruppe beitritt", kommentierte Sarah Leandro, als er konzentriert probierte alle fünf Teller auf einmal zum Tisch auf seinen Armen zu balancieren. Die Hütte hatte tatsächlich einen geräumigen Keller, inklusive Küche und Schlafzimmern. Zurzeit befanden wir uns in dem Esszimmer, was sich direkt gegenüber der offenen Wohnküche befand. Wer in dieser Hütte gewohnt haben musste, hatte ein Händchen für Farben und Stil. Trotz der modernen Einrichtung, welche durch einen riesigen Glastisch, Bilder der modernen Kunst an den Wänden und edlen Silberbesteck charakterisiert wurde, verlor der Raum nicht an Gemütlichkeit. Es musste hier wohl schon vorher  jemand gewohnt haben. Gerne hätte ich gefragt, wie die anderen Mitglieder zur Gruppe gefunden haben, ob es noch mehr von uns gab und wie diese Tradition eigentlich entstanden ist, doch bislang sah es nicht so aus, dass ich in naher Zukunft Antworten auf meine Fragen erhalten würde.

Als Leandro es tatsächlich geschafft hatte, alle Teller heil auf dem Tisch anzurichten, begann Liv zu schmunzeln. „Meint ihr nicht, wir sollten die Tradition mal überdenken", abwertend betonte sie Tradition und blickte zu Noah, welcher nur den Kopf schüttelte. „Der Sinn an Traditionen ist es, dass mindestens einer der Personen sie nicht ausstehen kann."
Liv setzte das gleiche Gesicht auf, wie sie es immer tat, wenn etwas mit Tomatensauce auf dem Speiseplan stand. Sie hasste Tomatensauce schon seitdem sie klein war und absolut niemand konnte sie davon abbringen.
„Gut, was geht schon über leckere Nudeln mit Öl", meinte sie ironisch und blickte mit hochgezogener Augenbraue auf ihren Teller.
„Dieses Mal habe ich gekocht, das heißt sie müssen schmecken", steuerte Leandro grinsend bei.
Die Reaktionen der anderen verrieten jedoch etwas anderes.
„Wie auch immer, guten Appetit", beendete Noah die Unterhaltung und eröffnete somit das Mahl.

Entgegen meiner Erwartungen schmeckte es wirklich gut, aber es war nicht das Essen, für das ich mich gerade interessierte. „Wenn wir schon nicht über uns reden dürfen, erzählt mir was über das Verfahren und System", startete ich die Unterhaltung und hoffte darauf, endlich an Informationen zu gelangen.
„Das Verfahren zwingt dir nicht nur einen Partner auf, es zwingt dich in eine Klasse, in ein Leben. Es gibt die Leute, die einen Partner abbekommen, aber es gibt auch Leute, die keinen Partner abbekommen", begann Noah zu erzählen. Skeptisch runzelte ich die Stirn. „Und was wird dann mit ihnen gemacht?", fragte ich und nahm ein Schluck von meinem Wasser, was mir Leandro gerade herübergereicht hat.
„Das kommt ganz darauf an", er schaute mich einem Blick an, als wüsste ich bereits die Antwort auf meine Frage.
„Sie- Sie werden getötet?" Livs Lippen zierten sich zu einem schiefen Lächeln. „Manchmal."

Fragend schaute ich meine Tischnachbarn an, so langsam wurde ich ungeduldig. Konnten sie mir nicht einfach sagen, was es mit dem Verfahren auf sich hat? Warum ich eigentlich hier mitmache? Ich wollte gerade zum Antworten ansetzten, als mir Sarah, Livs, Freundin, zuvor kam.
„Diejenigen, bei denen kein Partner rauskommt, wird eine Prozedur unterzogen, ähnlich wie eine Gehirnwäsche. Es dauert mehrere Tage, bis man ihr Denken so umprogrammiert hat, dass sie an eine andere Person angepasst werden und dann mit dieser zusammenkommen können. Kannst du dich noch an das Gefühl erinnern, als du das erste Mal deinen Betreuer kennengelernt hast und dich auf die Liege gelegt hast?"
„Ja. Das war so ein unbeschwertes, leichtes Gefühl. Ich habe mir plötzlich keine Gedanken mehr über das Verfahren gemacht", erinnerte ich mich und in meiner Antwort schwang nun ein gewisses Misstrauen mit.

„Die Empfangsdamen verabreichen dir ein Mittel über ihre Hände, wenn sie dir deinen Ausweis zurückgeben. Es ist eine fast unmerkliche Flüssigkeit, die über deine Haut in dein Gehirn gelangt. Dort löst es dann einen entspannten, fast schon tranceartigen Zustand aus und macht dich gleichzeitig gefälliger für Befehle. Nach der ersten Phase verliert es dann aber auch schon wieder seine Wirkung", erklärte Noah mir beiläufig, als er sich Nachschlag holte.
„Woher weißt du das?", fragte ich fassungslos. So etwas durften sie doch ohne unser Einverständnis gar nicht machen.
„Das darf ich dir leider nicht sagen, das würde gegen die erste Regel verstoßen", mit hochgezogener Augenbraue schaute ich ihn an, das meinte er doch gerade nicht ernst.

„Da habt ihr euch ja eine echt schlaue Regel ausgedacht. So kann man auch allen Nachfragen aus dem Weg gehen", murmelte ich genervt darüber, dass man mir kaum was erzählte. Man kann mir viel erzählen, und ich würde ihm gerne glauben, aber die fehlenden Beweise erschweren das natürlich. Dass ich mich in diesem Moment entspannt gefühlt habe, kann an tausend anderen Dingen gelegen haben. Außerdem hätte ich es doch gemerkt, wenn mir jemand eine Flüssigkeit an die Hand geschmiert hätte.

„Wie auch immer, es gibt Leute, die bekommen keinen Partner ab. Das kann daran liegen, dass der Partner, der 100% zu ihnen passt, zu jemand anderen besser passt. Wahre Liebe ist nämlich oftmals einseitig. Oder es wird festgestellt, dass die Testperson pädophile Züge aufweist. Personen, die als zu gewalttätig für eine Beziehung eingestuft werden, oder eben die, die einem potenziellen Partner mehr Anstrengung als Freude bereiten können. All sie werden eiskalt aussortiert. Denn letztendlich geht es darum, das Leid der Menschen so gering wie möglich zu halten", Wut staute sich in ihm auf und er schluckte. „Aber sie haben keine Ahnung. Denken, dass es für das Glück eine einfache Formel gibt. Nichts wissen sie. Nichts", zum Ende hin wurde er immer leiser und bedrohlicher, doch beim genauen Hinhören, hörte man Schmerz heraus. Die anderen schienen davon jedoch nicht so viel mitbekommen zu haben.

Meine Schwester fuhr fort, als sie bemerkte, wie ich sie fragend anschaute, um den Zusammenhang zwischen dem Mittel und der Personen, die keinen Partner abbekommen, zu erfahren. Ich konnte ihn mir, falls das alles stimmen sollte, bereits denken, doch er war zu surreal, um ihn auszusprechen.
„Diesen Personen verabreichen sie eine gefährliche Menge des Mittels. Unter dessen Einfluss erfolgt dann die Prozedur, bei der sie mithilfe von neusten Technologien auf ihr Bewusst - und Unterbewusstsein zugreifen. Da es jedoch recht neue und wenig erforschte Technologien sind, ist nicht immer der Erfolg gesichert. Die, bei denen die Prozedur Erfolg gezeigt hat, können nun wieder am normalen Leben teilnehmen und teilweise doch noch einem Partner zugeordnet werden. Die Leute, bei denen es erfolglos war, werden umgebracht. Sie lassen es wie einen Unfall aussehen. Daher auch die fünf Tage, an denen man sich nicht bei seiner Familie oder Freunden melden kann. Sie brauchen Zeit für ihr Vorhaben."

„Nein", geschockt sah ich ihn, und dann die anderen an, während ich mit dem Kopf schüttelte.
Das konnte einfach nicht stimmen. Ich konnte, und wollte es nicht glauben. „Ihr habt keinerlei Beweise dafür. Die Regierung kann doch nicht einfach die Menschen so formen und töten, wie sie möchte. Außerdem wäre das schon längst jemanden aufgefallen", wohin hatte mich Liv eigentlich geführt. Mit der Auffassung, dass das Verfahren nicht richtig ist, stimme ich vollkommen überein, aber das, was mir Noah zu erklären versuchte, war komplett unrealistisch.
„Juliette -", Liv nahm meine Hand und probierte mich zu beruhigen, doch in meinem Kopf wiederholten sich die ganze Zeit nur Noahs Worte. Zu oft, dafür, dass es wahrscheinlich alles kompletter Schwachsinn war, was er mir erzählte. Doch dann kam mir plötzlich Artur in den Kopf.

Artur, der komplett verloren mit leerem Blick am Bahnhof umherschlürfte, als hätte man ihn das erste Mal alleine ausgesetzt. Er erkannte mich nicht. Als hätte man ihn sein wahres Bewusstsein genommen. Als – Nein, nicht Artur, das konnte nicht stimmen. Kam Naomi bei ihm als einzige passende Partnerin raus? Gehörte er zu diesen Personen?

„Doch es gibt auch Leute, bei denen die Manipulation erfolgreich geklappt hat, es aber trotzdem nicht sinnvoll ist ihnen einen passenden Partner zuzuweisen. Sie werden für die Pflege und Erhalt des Landes gebraucht. Sie sind der Grund, warum wir so ein wohlhabendes Leben in einem perfekten, schönen und sauberen Land führen können. All die Häuser und Wohnungen, die sauberen Straßen und", Noah redete noch weiter, doch meine Sicht fing langsam an unscharf zu werden.

Als hätte ich zu lange in die Sonne geschaut, bildeten sich hellen Flecken in meinem Blickfeld. Alles wurde plötzlich ganz still. Auf einmal fühlte ich mich so, als würde ich an einem Strand, ganz weit weg von all dem hier liegen, die Sonne, die mich anlächelte, genießen und in diesem regelmäßigen Rauschen versinken. Mein ganzer Körper wurde plötzlich ganz schwer und meine Augenlider taten es ihm gleich. Je stärker ich mich gegen dieses Gefühl der Schwere zu wehren probierte und gegen das Schließen meiner Augenlider ankämpfte, desto schwerer wurden sie. Alles in meinem Körper schrie danach, mich diesem Gefühl hinzugeben.
Die Versuchung, sich einfach fallen zu lassen, wurde immer größer. Eine unglaubliche Welle der Müdigkeit überkam mich und machte es mir immer schwerer loszulassen. Bis ich es dann letztendlich tat, und mich in das dunkle Nichts fallen ließ.

Stille. Nur ein leises Rauschen, weit weit weg.

„Es hat funktioniert."

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