Kapitel 60

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Emma

Ich sah Wincent nur an, wohl in der Hoffnung in seinem Blick irgendwas zu lesen. Irgendwas, was mich vorbereiten würde auf das, was er gleich zu mir sagen würde. Wann hatte er seine Sachen gepackt? Seit wann plante er das schon? Hatte er diesen Plan etwa vergangene Nacht mit Marco ausgeheckt? Der war schon immer gegen mich. Und gegen Marcos Meinung hatte ich noch nie eine Chance. Er wird Wincent da schon rein gequatscht haben, dass es besser wäre zu gehen. Er hatte es schließlich auch nicht anders gemacht, als es ihm zu Hause zu eng wurde. Zu all meiner Enttäuschung und Angst kam jetzt auch noch Wut dazu. Ich schüttelte mich und sah Wincent an, der immer noch vor mir stand. „Is wahrscheinlich besser so, ja", murmelte ich nur. Ich wollte nicht diejenige sein, die verlassen wird. Ich wollte nicht das Opfer sein. 

„Es tut mir leid, dass all das, was ich für dich getan habe die letzen Jahre, nicht reicht, um über diese paar Wochen hinweg zu sehen", fing ich an. Ich hatte das Bedürfnis, mir endlich mal all das von der Seele zu reden, was mich belastete. Wincent hatte ja eh schon einen Entschluss gefasst, dann konnte ich auch alles ungefiltert rauslassen. Er würde genug Zeit haben um darüber nachzudenken. „Ich weiß, dass ich nicht immer nur schöne Sachen in dein Leben gebracht hab. Und ich weiß auch, dass die Phase, in der ich weg war, ziemlich schwarz war für dich, aber du warst auch nicht immer fair", redete ich weiter. Warum ich ausgerechnet so weit in unserer Vergangenheit wühlte, wusste ich nicht. Wincent sah mich irritiert an. „Wovon redest du? Warum packst du jetzt die alten Kamellen aus?", fragte er und ließ seinen Koffer los. „Weiß nicht. Vielleicht um dir vor Augen zu führen, was wir alles durchgemacht haben? Damit du überlegst, ob es das wert ist, alles hinzuschmeißen", fragte ich ihn. „Emma, ich..", wollte Wincent anfangen, aber ich ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Zu viel hatte sich in mir angestaut. „Ich weiß, dass es gerade hart ist, aber ich höre immer nur ‚ich, ich, ich' von dir. Es geht hier aber nicht nur um dich. Es geht um uns, als Familie. Es...", redete ich, bis ich unterbrochen wurde.

„Richtig, es geht um UNS. Es gibt aber seit Wochen kein uns. Es gibt dich und Flori- und es gibt mich. Wir sind schon lange kein Team mehr. Du machst dein Ding und ich wurschtel mich da so mehr schlecht als recht drum herum. Wir sind weiter von Familie entfernt, als Thailand von Deutschland. Wir...", hatte Wincent das Wort, bis ich mich wieder einmischte. Wir ließen uns gegenseitig nicht ausreden, weil wir wohl beide Unverständnis vom Anderen erwarteten. „Und hast du dich mal gefragt, warum das so ist?", wollte ich wissen und nach dieser Frage war es das erste Mal still zwischen uns. 

„Natürlich hab ich mich das gefragt, hundert Mal, tausend Mal. Tausend Mal hab ich mich gefragt, was ich falsch gemacht hab, dass es so gekommen ist. Wir waren immer ein Team, Emma, wir haben uns blind verstanden, und jetzt hab ich das Gefühl du WILLST mich gar nicht verstehen. Du willst deinen Stiefel durchziehen ohne Rücksicht auf Verluste. Ich bin genauso Teil dieser Familie, ich bin ihr Vater", wurde er wieder laut und traf, als er Florentine mit ins Spiel brachte, natürlich genau den richtigen Nerv bei mir. Aber bevor ich etwas sagen konnte, feuerte er weiter. „Du lässt mich aber nicht ihr Vater sein. Du gluckst 24/7 um sie rum, dass ich mich manchmal frage, ob vielleicht das der Grund ist, dass sie so drüber is manchmal. Dass sie vielleicht auch mal Luft zum Atmen braucht und nicht ständig eine Mutter um sich rum, die an sich zweifelt. Denn genau das tust du nämlich, Emma. Du zweifelst- an dir und scheinbar auch an uns", musste ich mir genau das anhören, was ich niemals hören wollte. 

„Du willst mir also gerade sagen, dass ich Schuld bin an all dem hier? An der Verfassung meiner Tochter? Willst du mir wirklich sagen, dass ich ihr nicht gut tue?", schrie ich ihn an, weil ich nicht fassen konnte, was er da sagte. „Du bist doch nie da. Du lebst dein Leben einfach weiter, als gäbe es sie gar nicht", schob ich nach. Und das brachte Wincent dann endgültig zum Ausflippen.

„Ich bin nie da? Willst du mich verarschen? Ich bin da, aber das macht für dich keinen Unterschied. Du nimmst mich überhaupt nicht wahr. Du hängst ununterbrochen an Flori, das ich überhaupt keinen Platz habe. Das ist voll okay, Emma, du bist ihre Mutter, und eure Verbindung ist ganz besonders, das versteh ich alles. Aber ich verstehe nicht, warum du mich so ausschließt", sagte er und langsam schwang da Verzweiflung in seiner Stimme mit. „Ich schließ dich doch nicht aus...", murmelte ich, mehr für mich, um meine aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen. Urplötzlich war es still zwischen uns. Mein Herz raste und meine Kehle schnürte sich zu. Auf einmal kamen mir Gedanken in den Kopf, die ich die ganze Zeit verdrängt hatte. 

Ich hob meinen Kopf und sah Wincent in die Augen. Ich sah, dass es Zeit war, auszusprechen, was mich die ganzen Wochen seit Florentines Geburt fast auffrass. „Ich hab nur Angst, die Zeit, die ich mit ihr habe, nicht zu nutzen. Ich hab Angst, dass uns nicht viel Zeit miteinander bleibt. Ich hab Angst, mich irgendwann mal zu fragen, hätte ich nicht was anders machen können. Ich will jeden Moment mit ihr genießen und immer bei ihr sein. Ich will, dass sie möglichst viel von mir hat. Ich will, dass sie nie das Gefühl hat keine Bindung zu ihrer Mutter zu haben. Ich will, dass sie, wenn ich mal gehe, genug hat worauf sie zurückblicken kann. Ich will sie nicht verlieren und wenn, dann will ich ein ganzes Repertoire an schönen Momenten zurücklassen", kamen die Worte wie ein Wasserfall aus meinem Mund. Und je mehr ich sagte, desto weniger wurde der Druck auf meiner Brust. 

Wincent sagte nichts, er hörte mir nur zu. Er ließ mir den Raum selbst einzusehen, was die ganze Zeit mein Problem war. Dass die ganze Zeit der frühe Tod meiner Mutter über mir schwebte. Ich redete und redete, bis mir irgendwann nichts mehr einfiel. Dann hob ich meinen Blick und sah Wincent an. Er hatte Tränen in den Augen, aber irgendwie wirkte er auch erleichtert. „Wir haben viel zu reden, schätze ich. Aber wir brauchen dringend Hilfe dabei. Und vor allem brauchen wir einen Tapetenwechsel", sagte er. Ich wünschte mir er würde mich in den Arm nehmen und mich einfach kurz festhalten. Stattdessen griff er wieder nach seiner Tasche und deutete mir an ihm Platz zu machen. Nach diesem Seelenstriptease meinerseits und seiner Aussage ‚WIR bräuchten Hilfe', ließ er mich nun doch alleine. 

Für immer DuWhere stories live. Discover now