Kapitel 72

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Emma

Die paar Tage mit Paul und Lisa gingen viel zu schnell vorbei und auch unseren nächsten Stopp im Westen von Schweden hatten wir bereits hinter uns gelassen. Irgendwie war es aufregend nicht zu wissen wo wir landen würden, aber so langsam wollte ich doch mal wissen, was Wincent eigentlich vorhatte. Und das fragte ich ihn, als wir mal wieder über die unendlichen Landstraßen Schwedens fuhren. Er zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Is es nicht schön so, nicht zu wissen was kommt?", fragte er. Ich sah ihn mir genau an, versuchte irgendwas in seiner Körpersprache zu lesen, aber ich entschied mich letzten Endes dagegen nach seinem Job zu fragen. Er blühte nämlich richtig auf, seit wir unterwegs waren, und wirkte einfach nur entspannt. Manchmal dachte ich darüber nach, was die letzten drei Jahre so mit ihm gemacht haben mussten. Wir liefen einfach das dreiviertel Jahr auf Vollgas, das muss man sich mal vorstellen. Dann war es natürlich klar, dass seine Community nach ihm fragte, weil wir uns seit Wochen nicht gemeldet hatten. „Nicht mein Problem, sollen die denken was sie wollen", klinkte sich Wincent in meine Gedanken. Dann wurde ich doch misstrauisch, ob er sich das gut überlegt hatte. 

„Was sagt Amelie eigentlich?", fragte ich und Wincent sah seufzend zu mir rüber. „Die hat alles im Griff. Im Sommer war eh nichts geplant wegen Flori. Und alles andere sehen wir dann, oder halt nicht", zuckte er nur mit den Schultern. Okay, ich musste also anfangen unseren Job auszublenden, denn der war offensichtlich überhaupt kein Thema. Ich sah eine Weile aus dem Fenster und betrachtete die Wälder, die an uns vorbeizogen. „Sorry", meinte ich nur irgendwann und legte meine Hand auf seinen Oberschenkel. „Schon okay", machte er nur, „du kannst mir vertrauen. Ich hab zwar nicht viel geplant, aber Amelie hab ich eingeweiht. Wir melden uns, wenn wir meinen wir sind bereit für Zuhause". Ich nickte nur. „Und grad bin ich es noch überhaupt nicht", fügte er an. Und dann verfiel er in Träumereien, erzählte vom Norden und was er vorhatte, was wir sehen könnten und was wir Flori alles zeigen könnten. Er wollte nach Norwegen und Island, auf die Färöer-Inseln und noch weiter. Ich liebte es, wenn er so strahlte und ließ mich natürlich davon anstecken.

Bis ich seine Pläne ganz erwachsenenmäßig crashen musste. „Auch wenn Sommer is, ich weiß nicht wie kalt das wird. Und ich weiß nicht, ob wir genug warme Sachen für Flori haben- vielleicht sollten wir nochmal irgendwo anhalten", schlug ich vor. Ich wusste er war überhaupt kein Freund von Shoppingtrips, aber das ließ sich nicht vermeiden. Ich konnte ja schlecht bei Amazon bestellen- wohin hätten die das liefern sollen? Und wir mussten ja nicht ausgerechnet in Göteborg shoppen- es gab ja genug kleinere Städte, die auf dem Weg lagen. Eine süßer, als die andere. Wir mussten eh mittags einen Stopp zum Essen einlegen, Flori musste an die frische Luft und ich konnte auch irgendwann nicht mehr sitzen. Also schlenderten wir durch die kleinen Gassen, genossen die Sonne und packten unsere Taschen voll. Outdoorshops gab es irgendwie wie Sand am Meer. Und ich hätte den halben Laden leer kaufen können, so süß waren die klitzekleinen Overalls und Schlafsäcke. 

„Okay, chill mal. Sie kann nur einen tragen", mischte sich Wincent ein und hing den gelben Wolloverall wieder weg. Aber der war so süß, protestierte mein schmollendes Ich in Gedanken. Ich musste mich irgendwann geschlagen geben, meine Taschen waren voll und wir hatten nach wie vor nur den Bus zum leben. Und den sollten wir nicht unnötig voll laden, da musste ich Wincent schon Recht geben. Wir packten also die paar warmen Sachen für Flori in den Kofferraum, ich setzte sie in ihre Babyschale und dann fuhren wir weiter- wohin, keine Ahnung. Wir fuhren weiter, querfeldein, weg von der Zivilisation, bis wir an einem kleinen See ankamen, welcher sich als unser Parkplatz für die Nacht herausstellte. Hier war weit und breit keine Menschenseele. Ich sog die frische Luft in mich auf, als wir ausstiegen und während Wincent unseren Platz herrichtete, setzte ich mich an den Steg für mein wöchentliches Telefonat mit Kerstin. Auch wenn es mir schon viel besser ging, brauchte ich das. Weil sie einfach von Außen ein besseren Blick auf Alles hatte und mich gut sortieren konnte.

Aber auch sie merkte, dass wir ganz gute Fortschritte machten. Wir redeten viel mehr miteinander, vor allem wenn uns irgendwas im Magen lag oder ich mal wieder mit meinen Gedanken abdriftete. Wincent war einfach großartig und unterstützte mich bei jedem Schritt. Eventuell genoss er es richtig, wenn er unsere Tochter für sich hatte und Blödsinn mit ihr veranstalten konnte. Wie zum Beispiel mit ihr auf seinem Skateboard über den letzten Campingplatz zu cruisen. „Und selbst das hab ich verkraftet", musste ich lachen, als ich Kerstin davon erzählte. „Ich denke du bist auf einem sehr guten Weg. Ich sehe wie gut dir euer Unterwegssein tut. Ich bin mir sicher, du hast gut an dir gearbeitet und bist jetzt viel gefestigter. Und falls du doch nochmal ein Gespräch brauchst, melde dich", lächelte sie mich an und dann legten wir auf. Das war also wirklich vorerst unsere letzte Sitzung? Seufzend ließ ich mich auf den Rücken sinken und sah in den blauen Himmel. Vereinzelt zogen Wolken vorbei und eine sah aus wie ein großes Herz. 

Eigentlich wusste ich immer, dass meine Mama auf uns drei Acht geben würde, ich hatte das nur kurz mal vergessen. Ich sah sie in der Wolke, in der Sonne und im Wasser- egal ob Meer oder See. Und ganz besonders sah ich sie in meiner Tochter. Auch wenn sie anfangs ganz viel von Wincent hatte, erkannte ich mittlerweile auch immer mehr von meinen Genen in ihr- bzw. die Gene meiner Mum. Man könnte jetzt die Tragik darin sehen, aber ich war nun an einem Punkt, dass ich mein Schicksal einfach akzeptieren musste. Ja, meine Mum war nicht mehr hier, nicht mehr greifbar, aber sie war die ganze Zeit bei uns- gedanklich. Ich wünschte sie hätte Wincent kennengelernt, sie hätte ihn geliebt. Sie hätten den gleichen Humor geteilt und wahrscheinlich hätten sie sich hauptsächlich auf meine Kosten amüsiert. Was hätte ich gegeben, um sie einmal zusammen lachen zu sehen. 

Wie automatisch rollten mir die Tränen über die Wangen, aber nicht nur aus Trauer. Sondern auch aus Liebe, Freude und Dankbarkeit- dass sie mein Universum in der Hand hatte und mir Wincent und später Florentine geschickt hatte. Ich glaubte daran, dass alles aus einem Grund passierte und in jedem Schicksal auch was Gutes stecken musste. Und mein Bestes war meine Familie. 

Für immer DuWhere stories live. Discover now