Kapitel 63

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Emma

Wincent fand genau das, was wir brauchten in unserer Situation und ich war ihm so dankbar, dass er als Erster begriff, dass es so nicht mehr weitergehen konnte, und dass er den Mut hatte seine Idee durchzuziehen. Ich war schließlich unberechenbar zu dieser Zeit. Hätte auch sein können, dass ich ihn rausschmiss und alleine losziehen lassen könnte. Schrecklich, wie ich dachte. Ich würde ihm wohl mein leben lang dankbar dafür sein, auch wenn ich ein bisschen Angst hatte anfangs. Schließlich wusste ich genauso gut wie er, dass ich ein Problem hatte und dass ich es angehen musste. Weil sonst nicht nur ich, sondern auch der Rest meiner Familie darunter leiden würde. Mir war klar, dass es Wincent nicht leicht fiel, aber diese Gespräche waren sowas von nötig. Wir brauchten drei Anläufe an drei Abenden, bis wir da angekommen waren, wo wir hinwollten- am Tod meiner Mutter. Auch wenn ich immer dachte, dass ich darüber hinweg war und genug darüber geredet hatte, mit Linda, mit Bea, mit meiner Therapeutin, holte es mich immer wieder ein. Und als ich selbst Mutter wurde, heftiger als jemals zuvor. 

Weil mir jetzt langsam klar wurde, wie sie sich gefühlt haben muss. Weil ich erst jetzt manche Dinge verstand, die sie getan oder gesagt hatte. „Du bist nicht sie, Emma. Und Flori ist nicht du", erwiderte Wincent fast schon verzweifelt, als ich mich mal wieder in die Annahme verstrickte, dass mich und Flori das gleiche Schicksal ereilen würde wie meine Mum und mich. Bullshit, ich weiß. „Du wirst nie wissen, wann es zu Ende geht mit uns, aber willst du jeden Tag darauf warten?", meinte er und hob mein Kinn, dass ich ihn ansah. Natürlich wollte ich das nicht, ich wollte nur jeden Tag nutzen. „Aber das tust du nicht, wenn du dich 24/7 auf Flori konzentrierst. Sie braucht irgendwann Platz um selbst was auszuprobieren und zu lernen. Und du brauchst mal Platz zum Atmen. Ich bin doch auch noch da", redete er weiter. Mir schmerzte es, dass er das Gefühl hatte außen vor zu sein. Das wollte ich nie. Ich wollte nie meiner Tochter den Vater vorenthalten. Warum auch?

Wincent war der tollste Mann, den ich jemals kennengelernt hatte, und er war ein ebenso toller Vater. Warum ich dennoch der Meinung war, er könnte sich nicht dementsprechend um Florentine kümmern, wusste ich nicht. Vielleicht weil es in meiner Kindheit nie eine Vaterfigur gab? Ich hatte mich in den letzten drei Monaten so verstrickt, dass es mir schwer fiel etwas anderes zuzulassen. Immer wieder sagte Wincent mir, dass ich nicht alleine war und dass ich nicht alles alleine durchstehen musste. Dass es ihn gab. Und seine Familie. Und Linda, Marco und all unsere Freunde. Ich war ja auch froh so ein großes Netzwerk zu haben, aber trotzdem fühlte ich mich wie eine Versagerin. „Herrje, Emma", wurde Wincent langsam laut und stand auf und ging vor mir auf und ab. Ich zuckte richtig zusammen wegen seines plötzlichen Stimmungswechsels. 

„Mama hat das auch alles allein gepackt, warum schaff ich das nicht?", murmelte ich und stellte gedanklich schon wieder mein halbes Leben in Frage. „Weil sie musste, Emma. Sie hatte keine andere Wahl. Es gab niemanden- außer Bea vielleicht", mischte sich Wincent direkt ein. „Aber bei dir ist das anders, warum verstehst du das nicht?", fragte er und sah vor uns aufs Meer. Ich sah ihm an, dass er der Verzweiflung nahe war, aber verstand er mich trotzdem? Ich ging auf ihn zu und kuschelte mich an seinen Rücken. Gerade wusste ich nicht, was ich noch sagen sollte. Mir hatte bisher nie jemand meine Taten und Ansichten so vor Augen geführt wie Wincent. „Wir sind doch ein Team, du musst nichts alleine durchstehen...warum glaubst du mir nicht?", murmelte er und ließ seinen Kopf hängen. Seufzend schloss ich meine Augen. „Bin ich dir nicht genug? Glaubst du nicht mehr an uns? Vertraust du mir nicht?", hörte ich Wincents verzweifelte Worte, die mir sofort einen Stich ins Herz versetzten. Nichts davon entsprach auch nur zu einem minibisschen der Wahrheit. „Quatsch, nein, das hat nichts mit dir zu tun", sagte ich sofort.

Bisher hatte ich nie darüber nachgedacht, was diese Zeit mit Wincent machte. Wie er sich gefühlt haben muss. „Natürlich hat das was mit mir zu tun", widersprach er. Aber nicht so, dachte ich. „Du bist toll, Schatz, mit mir, mit Flori, mit allem. Ich vertraue dir, natürlich..", fing ich an und wollte so viel sagen, aber mehr fiel mir nicht mehr ein. So gerne wollte ich ihm eine Liebeserklärung bieten, damit er mir glaubte, aber meine Worte verschwammen in meinen Gedanken, bis ich mich geschlagen geben musste. Wieder mal waren wir in einer Sackgasse angekommen, das war meine Schuld, ja, aber ich wusste auch nicht wie wir da raus kommen sollten. Wincent seufzte nur, mal wieder, und löste meine Arme, die ich um seine Mitte geschlungen hatte. Dann drehte er sich um und sah mich an. Er hatte Tränen in den Augen, mal wieder, was mir nur bestätigte, wie verzweifelt er war. Ich wollte ihn nicht so sehen! 

Er versuchte zu lächeln, aber das glaubte ich ihm nicht. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann, Emma. Ich würde wirklich alles geben, aber ich glaube es ist besser, wenn du mal mit deiner Therapeutin telefonierst. Zumindest für den Anfang", sagte er und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Dann ließ er mich stehen und verschwand im Bus. Ich schlang meine Arme um mich, weil ich diesen Halt brauchte, den eigentlich nur Wincent mir geben konnte, und hielt nun meine Tränen nicht mehr zurück. Ich bewunderte ihn für seinen Mut und für seine Liebe in dieser Zeit, in der ich mich selbst nicht ausstehen konnte, und musste mir eingestehen, dass er wohl Recht hatte. So sehr ich das wollte, alleine kam ich da nicht mehr raus. 

Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, schrieb ich meiner Therapeutin eine Mail und bat um ein Telefonat, bevor auch ich zum Bus ging. Irgendwie fühlte es sich komisch an, mich einfach neben Wincent zu legen, aber ich hatte keine andere Wahl- mehr Schlafmöglichkeiten gab es nicht. Ich löschte draußen die Kerzen und zog die Tür zu. Wincent lag auf seine Seite gequetscht und hatte Flori fest an sich gedrückt und seine Nase in ihren Haaren vergraben. Ob er schlief wusste ich nicht, also legte ich mich einfach nur daneben und strich über seinen Arm. Nachdem er nicht reagierte, drehte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Unsere Reise hatte so schön begonnen und schon nach drei Tagen holten uns unsere Alltagsprobleme ein- wo sollte das nur enden?

Für immer DuWhere stories live. Discover now