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Das schrille Klingeln zur nächsten Stunde nahm ich kaum noch wahr. Ich stand immer noch, von der Sonne geblendet, vor dem Eingang unserer Schule und schaute dabei gedankenverloren ins Nichts, während ich von dem Gedankenstrudel in meinem Kopf in meine Vergangenheit katapultiert wurde.

Bilder meiner laut streitenden Eltern liefen vor meinem inneren Auge ab. Szenen des Abschieds. Erinnerungen an Tränen, Wut und Enttäuschung, die mich dann auch letztendlich dazu trieben, die Treppenstufen eilig herunterzulaufen und von hier abzuhauen.

Mr. Handsome würde ich erklären, dass mir der Vorfall mit Guiselle zu viel war und ich würde rechtzeitig wieder hier sein, damit mein Bruder mein Verschwinden nicht bemerken würde.

Das war zumindest der Plan!

Immer schneller trugen meine Füße mich die verlassenen Straßen Tilimtos entlang, während die Sonne auf mich herunterschien und die bunten Blätter von den Bäumen herabfielen. Der Herbstanfang war mir früher immer die liebste Zeit des Jahres, doch an diesem mich überfordernden Tag, nahm ich die bunten Farben um mich herum nur noch nebenbei wahr. Viel zu eingenommen war ich von mir selbst und all den Geschehnissen.

Ständig musste ich an Violas dunkle Augen denken und auch an Trevis plötzlichen Sinneswandel. Guiselle schlich sich ebenfalls erneut in meinen Verstand, von der ich immer noch nicht wusste, wer sie überhaupt ohne ihre Erlaubnis für sich beansprucht hatte. 

Wahrscheinlich irgendein Idiot unserer Schule, der die Volljährigkeit erreicht und keine Gefährtin gefunden hatte. Diese Proleten meinten dann, sie könnten sich schnell eine andere nehmen, Hauptsache, sie würden nicht ihr erbärmliches Leben alleine verbringen müssen.

Wölfe waren wirklich Raubtiere, anders konnte ich es nicht beschreiben.

Als ich dann endlich an dem großen Sportplatz am Rande unserer Stadt ankam, blieb ich kurz stehen und atmete mit geschlossenen Augen die frische Waldluft ein, was sofort die leichten Verspannungen meines Körpers löste. 

Nun lagen unsere kleine Stadt, die Wölfe und all die Probleme weit hinter mir, während vor mir der wunderschöne Wald anfing, der mir allein durch seinen mich einnehmenden Duft vollkommene Freiheit versprach. 

Voller Vorfreude lief ich schnellen Schrittes über die Wiese direkt hinter den Sportplatz und versteckte mich dort angekommen zwischen einigen hohen Bäumen, um meinen Rucksack und meine Klamotten loszuwerden. Ich hoffte nur, dass ich dieses Mal nichts verlieren würde, doch bevor ich überhaupt dazu kam, irgendetwas außer meinen Rucksack auszuziehen, hörte ich nicht weit entfernt von mir plötzlich einen Ast knacken, was mich sofort erschrocken in die Richtung der Geräuschquelle schauen ließ.

Es musste Einbildung gewesen sein. Das redete ich mir zumindest immer wieder ein und meinen schnellen Herzschlag ignorierend, lief ich neugierig einige Schritte in den dichten Wald hinein, genau dorthin, woher das Geräusch zuvor kam.

Unter meinen schwarzen Sneakern raschelten die bunten Blätter, während wenige Sonnenstrahlen durch die dichten Bäume hindurchstrahlten und nach und nach nur noch düster wirkender Wald vor mir lag.

Wieso ich nicht einfach kehrt machte?

Tja, wer mich kannte, der wusste, dass es für mich nicht möglich war, meiner natürlichen Neugierde keine Befriedigung zu geben, also lief ich immer weiter, bis ich schließlich an einer breiten Lichtung ankam.

Ich stellte mich vorsichtig genau in die Mitte des hellen Platzes und drehte mich anschließend mehrere Male um die eigene Achse, doch weder hörte noch sah ich etwas, was mich sofort beruhigt durchatmen ließ. Hätte mich nämlich jemand hier im verbotenen Wald gesehen, dann hätten sie mich sicher bestraft, womit auch immer.

Ein letztes Mal schaute ich mich konzentriert um und betrachtete dabei eine Weile die wunderschönen Bäume, die mir ein Gefühl von Zuhause gaben. Es stimmte mich einerseits glücklich, hier diese friedlich wirkende Stille zu genießen. Andererseits aber auch traurig, denn ich wusste, ich würde es nie wirklich genießen können. Die Angst erwischt zu werden, lag mir ständig im Nacken und genau deswegen wollte ich mich dann auch eilig wieder auf den Rückweg machen, doch ehe ich auch nur einen Fuß vor den anderen setzen konnte, blieb ich abrupt stehen und riss erschrocken meine Augen auf.

Genau vor mir, zwischen den Bäumen und den leichten Sonnenstrahlen, stand urplötzlich ein pechschwarzer, riesiger Wolf, dessen dunkle Augen mich durchgehend fixierten und dessen Körperhaltung pure Feindseligkeit ausstrahlte.

So ein Mist!

Wäre es einer von uns Unteren, hatte er sicher gerade Gedanken an eine Zwangsmarkierung oder schlimmer sogar, an eine Vergewaltigung. Wann findet man auch schon ein Mädchen ganz alleine im Wald, weit weg von jeglicher Hilfe? Nie und natürlich konnte sowas mal wieder nur mir passieren.

Wäre es einer der Oberen, dann würde ich vermutlich dafür büßen, mich hier aufzuhalten, was wahrscheinlich sogar noch schlimmer als alles andere wäre.

Mit zitternden Händen atmete ich nur noch ganz flach und spürte mein Herz mir dabei bis zum Hals schlagen, während meine Augen durchgängig auf seinen hafteten. Ich hatte sicher nicht vor, mich einfach zu ergeben und wartete wie erstarrt darauf, dass er irgendetwas tun würde, doch er bewegte sich keinen Millimeter, was mich immer nervöser werden ließ. Er wirkte fast schon versteinert und dann, ganz plötzlich, passierte etwas, das ich niemals für möglich gehalten hätte und was meinen Verstand vollends aufzulösen drohte.

Meine Instinkte setzten ein ...

Sein einzigartiger Geruch stieg mir in die Nase. Ein Duft, der mir ein unfassbar angenehmes Kribbeln im gesamten Körper bereitete. Wäre ich nicht schon am zittern gewesen, dann hätte ich spätestens jetzt damit angefangen. Diese dunklen Augen, die mich durchgehend anstarrten, zeigten mir Wut, Zerrissenheit und Schmerz, aber auch Wärme, Freude und Glückseligkeit. Das zersauste Fell glänzte von den einzelnen Strahlen und dadurch wirkte er fast schon wie ein Gemälde ... ein wirklich wunderschönes Gemälde ... 

Ich wollte neugierig einen Schritt auf ihn zumachen, obwohl ich gleichzeitig riesige Angst hatte, doch ich war gefangen, fühlte mich wie hypnotisiert und nicht mehr im Stande dazu, meinen eigenen Körper zu kontrollieren. Doch ehe ich einen Fuß vor den anderen setzen konnte, knurrte er plötzlich bedrohlich auf und zeigte mir seine scharfen Reißzähne, um mich danach mit langsamen Schritten zu umkreisen, wie ein Wolf seine Beute. 

Angst und Neugier durchfuhren mich gleichermaßen und unter Hochspannung beobachtete ich ihn dabei, wie er eine Pfote vor die andere setzte und mich dabei nicht eine Sekunde aus den Augen ließ, bis er plötzlich näher kam und sich genau vor mir aufstellte, sodass ich in dem sonst stillen Wald sogar seinen rasenden Herzschlag hören konnte.

Seine Augen huschten über meinen Körper, blieben dann erneut an meinen haften und er legte seinen Kopf schief, als würde er sich gerade in seinen eigenen Gedanken verlieren.

Sollte ich abhauen? Sollte ich ihn berühren? Etwas sagen? Und wenn ja, was sagt man einem fremden Wolf mitten im Wald? Hallo? Das kam mir nicht wirklich klug vor.

Seine Atmung ging ruhig, gleichmäßig und beruhigte damit auch meine wieder, was mich ein klein wenig entspannte, obwohl ich immer noch voller Unsicherheit war. 

Wie machte er das? Konnte er meine Gefühle kontrollieren? 

Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf und dann, ganz plötzlich und unerwartet, drehte er sich herum und rannte laut jaulend durch den Wald. 

Meine Starre verschwand, mein Verstand lief wieder auf Hochtouren und als er zwischen den Bäumen nicht mehr zu sehen war, lief ich wie von einer Tarantel gestochen los, zurück zu meinem Rucksack, der immer noch zwischen den Bäumen am Waldrand lag. 

Immer schneller werdend rannte ich zwischen den Bäumen durch und schwor mir selbst, nie wieder auch nur einen Fuß in den Wald zu setzen. Anscheinend hatte ich mal wieder mehr Glück als Verstand und darüber war ich so dankbar, dass mir einige Tränen der Erleichterung über meine Wange liefen, während ich an meinem Rucksack ankam, ihn hastig anzog und einfach verwirrt wie nie zuvor weiterrannte.

Die Arroganz des WolfesWhere stories live. Discover now