1. Kapitel

454 46 37
                                    

Wenigstens schneit es nicht mehr, dachte sie und trotzdem fühlte sie sich extrem unbehaglich. Als sie um die nächste Ecke bog, konnte sie die Gruppe schon sehen und ihr Herz begann schneller zu schlagen.

„Also hier ist der Deal:“, sagte er anstelle einer Begrüßung, als sie bei ihnen angekommen war. Seine Samtstimme jagte ihr wie jedes Mal Schauer über den Rücken. „Du gehst da rein“, er machte eine ausladende Geste zum Fabrikgelände „In einer der alten Überwachungskammern wirst du ihn finden. Navin. Sei freundlich zu ihm. Dann kommst du zurück, gibst uns den Stoff und wir erzählen dir von deiner verschwundenen Prinzessin.“

Sie trat ihm gegen das Schienbein. Nicht fest genug, um ihm einen Schmerzensschrei zu entlocken, aber fest genug, damit er dort morgen einen blauen Fleck vorfinden würde.

Weil sie wusste, dass sie allesamt strohdumm waren und wie blöde aus der Wäsche gucken würden, fügte sie noch hinzu: „Schluss jetzt mit dem pietätlosen Gerede.“

Sie hatte Recht gehabt, keiner schien das Wort zu verstehen und auf seine Stirn trat eine Zornesfalte.

„Fühl dich doch“, er drückte ihr Geld in die Hand und schubste sie dann in Richtung Zaun. Sie zog es kurz in Erwägung, ihm den Stinkefinger zu zeigen, ließ es dann aber bleiben.

Egal, dachte sie sich und musste lächeln. Für seinen Blick war es der Kommentar auf jeden Fall wert gewesen.

Dann kroch sie unter dem labiden Zaun hindurch auf das verlassene Grundstück der Textilfabrik. Es lag an der bei Nacht kaum und sonst auch sehr wenig befahrenen Landstraße zwischen ihrem und dem Nachbardorf. Vor fünfzig Jahren oder so sollte das Unternehmen floriert haben, aber mittlerweile war das Gebäude nur noch ein leer stehendes Wrack, das mit den Jahren mehr und mehr zusammenfiel.

Ihre Schritte hinterließen Spuren im Schnee.

Sie bezweifelte, dass dieser Navin wirklich hier war. Und überhaupt fragte sie sich, warum die Jungs das Ganze nicht selber machten. Es war illegal, das wusste sie, aber wenn es sie näher zu Emilia bringen würde, dann tat sie alles, was nötig war.

Sie öffnete jetzt die Tür. Sie knarrte unheimlich. Sie wusste, dass die Gruppe sie von der anderen Seite hinter dem Zaun aus beobachtete, aber sie gönnte ihnen den Triumph nicht, dass sie sich umdrehte.

Was sie nicht wusste, war, dass sie beim Betreten des Gebäudes eine unsichtbare Lichtschranke aktivierte und dass genau in diesem Moment bei der örtlichen Polizei ein Alarm ertönte.

Auf dem Flurboden vor ihr lag ein zerdelltes Schild mit der Aufschrift UNBEFUGTEN IST DER ZUTRITT UNTERSAGT. Es war offensichtlich darauf herumgetrampelt worden.

Sie stieg vorsichtig darüber und sah sich in der leeren Halle um. Es herrschte Chaos pur. Überall waren nicht identifizierbare Gegenstände verteilt und auf allem lag eine dicke Staubschicht. Das gruseligste war jedoch die gespenstische Stille, die alles einhüllte.

Hier unten war anscheinend niemand, also stieg sie langsam die unter ihrem Gewicht ächzende Treppe ins obere Geschoss hinauf. Auch hier hinterließ sie überall im Staub Spuren.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now