10. Kapitel

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Romy schlenderte gemütlich durch die Hauptstraße, blieb mal hier, mal dort stehen und betrachtete die Auslagen in den Schaufenstern. Es hatte hier in den letzten Tagen wieder viel geschneit und eine frische Schneeschicht lag auf Straßen, Dächern, Fenstersimsen und Laternen.

Gestern gegen acht Uhr waren Kelly und sie zurückgekommen und das erstaunlichste war gewesen, dass ihr Vater auf sie gewartet hatte, um sie zu begrüßen. Er hatte Romy in den Arm genommen und ihr gratuliert. Ein bisschen steif war es gewesen, aber es war der meiste Kontakt, den sie seit langem gehabt hatten. Sie hatte ihn angelächelt und auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, hatte sie sich gefreut, ihn wieder zu sehen.

Heute früh allerdings war er ganz schnell verschwunden. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen. Nur ein Zettel mit den Worten: Ich muss weg, hab etwas Wichtiges zu erledigen. Ich hab dich lieb, Papa hatte auf dem Küchentisch gelegen. Romy hatte sich ein bisschen gewundert, denn normalerweise sagte er nie Bescheid, wenn er weg musste und er hatte auch noch nie Ich hab dich lieb zu ihr gesagt. Vielleicht hatte er sie ja wirklich auf seine ganz persönliche Art vermisst, während sie in London gewesen war.

Sie spürte, wie beim Gehen etwas Schweres gegen ihren Bauch schlug. Es waren die Medaille und ein Taschenmesser, die sie in die einzige Tasche vorne an ihrer Kapuzenjacke gequetscht hatte. Die Leggins, die sie trug, hatte keine Taschen und deshalb war ihr keine andere Wahl geblieben.

Im Schaufenster eines Zeitschriftenladens entdeckte sie ein Foto von sich selbst, das lächelnd aus dem Süd-West-Kurier zu ihr auf blickte: Sechzehnjährige Romy Lindner gewinnt Goldmedaille. Sie begann den Artikel, den der Reporter basierend auf dem Interview von letztem Sonntag über sie geschrieben hatte, zu lesen und tastete dabei vorsichtig nach der Medaille in ihrer Tasche.

„Tja, jetzt bist du wohl berühmt, Romy", sagte plötzlich eine Stimme neben ihr. Erschrocken fuhr sie herum und sah den Drogenboss, der lässig neben ihr an der Scheibe lehnte.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und brachte schließlich mühsam stammelnd hervor: „Woher-her kennst du meinen Na-namen?"

„Jeder kennt ihn mittlerweile", er deutete auf die Zeitung. „Übrigens heiße ich Alan", fügte er hinzu. „Falls es dich interessiert."

„Nein, das interessiert mich nicht", fauchte Romy und wandte sich wieder der Zeitung zu.

Alan blieb neben ihr stehen und in seiner Gegenwart konnte sie sich nicht konzentrieren, deshalb fuhr sie ihn an: „Was willst du? Hast du nichts Besseres zu tun, als mich zu belästigen?"

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen", sagte er sanft.

„A-ha! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass man sich für Entführung und Mord entschuldigen kann, oder?", rief sie wütend. Was dachte er sich nur dabei?

„Das denkst du von mir? Hör zu, das mit der Sache bei der Fabrik tut mir wirklich leid. Wir hätten nicht wegrennen dürfen. Es tut mir schrecklich leid, ich wünschte, wir hätten es nicht getan. Aber... ich habe niemanden umgebracht. Ich habe nichts mit der Sache von deiner Mutter zu tun. Und entführt hab ich auch niemanden. Erst recht nicht deine Freundin."

„Und wer soll dir das jetzt schon wieder glauben? Doch nicht etwas ich?" Sie sah ihn an und für einen kleinen Moment vergaß sie, was sie sagen wollte. Sein Blick brachte sie völlig aus der Fassung, doch sie hatte sich schnell wieder im Griff.

„Ist es etwa Zufall, dass in dem selben Hauseingang, in dem ihr immer herumlungert die Leiche meiner Mutter gefunden wurde?"

„Er hob abwehrend die Hände. „Wir haben nichts damit zu tun!"

„Dumm nur", schrie Romy so laut, dass sich drei ältere Damen, die gerade ihre Weihnachtseinkäufe erledigten neugierig zu ihnen umdrehten. „Dass du dich selbst verraten hast! Auch nicht, wenn wir dir sagen, dass wir wissen, was mit dem verschwundenen Mädchen passiert ist? Weißt du noch? Das hast du selbst gesagt. Wie saublöd kann man eigentlich sein? Nur ich bin es nicht!"

„Romy, ich kann dir das erklären."

„Nichts kannst du, du Lügner. Emilia wusste, dass ihr dealt und diese ganze Scheiße mit euren Drogen abzieht und deshalb wolltet ihr sie aus dem Weg schaffen. So war das." Es passte so gut zusammen. Zu gut.

„Romy, du musst mir nur zuhören. Bitte."

Wäre das hier jetzt ein Film, dachte Romy, dann hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben, aber sie brachte es einfach nicht über sich, ihm ins Gesicht zu schlagen.

Stattdessen sagte sie nur: „Ich will dich nie wieder sehen", drehte sich um und hastete davon. Sie wollte einfach nur so schnell wie möglich seiner Gegenwart entfliehen.

„So macht man richtig mit seinem Freund Schluss, Magrethe", sagte die Frau, die ein großes rechteckiges Paket in den Armen hielt zu der, die die Arme voller Kerzen hatte.

„Hätte ich das bei Ephraim nur auch so gut hinbekommen", seufzte diese.

„Herzlichen Glückwunsch", meinte die dritte freudig zu Romy. „Das war allererste Sahne!"

„Dieser Idiot da war nie mein Freund und er wird es auch garantiert nie werden. Da komm ich ja noch eher mit Prinz Harry zusammen. Er ist mein Feind und ich hasse ihn mit ganzem Herzen, aber ich freue mich, wenn ich Ihnen als gutes Beispiel dienen konnte", verkündete sie den drei Damen.

Sie hätte gerne gesehen, wie Alan guckte, aber wenn sie sich jetzt umgedreht hätte, dann hätte das den Gesamteindruck vernichtet.

Sie lächelte leicht, auch wenn es nicht stimmte, dass sie ihn hasste. Sie wollte ihn hassen, aber sie konnte es nicht.

Er ist wahrscheinlich der Entführer deiner besten Freundin und alles spricht dafür, dass er was mit dem Tod deiner Mutter zu tun hat. Er ist ein Lügner und hat dich rückradlos der Polizei ausgeliefert. Warum kannst du ihn nicht hassen? Das wäre doch so viel einfacher, dachte sie verzweifelt.


MedaillenblutWhere stories live. Discover now