19. Kapitel

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„Guck mal, hier isses gut oder nicht?" Emilia trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihr Werk. Sie hatte die Kamera am Rand des Fenstersimses eines Hauses, von dem man einen perfekten Winkel auf den Hauseingang, den es zu beobachten galt, platziert.

Von der Hauswand bröckelte der Putz ab und Romy fragte sich, ob hier überhaupt noch jemand wohnte. Die Fenster waren allesamt verdunkelt.

„Ich weiß nicht. Ist das nicht ein bisschen auffällig?" Romy schlang die Arme um sich, aber weniger, um sich vor der Kälte zu schützen, als vor dem unangenehmen Gefühl, dass sie in der Rosengasse jedes Mal überfiel. Hier war einfach viel zu viel passiert, als dass sie sich je wieder wohlfühlen konnte. Momentan wollte Romy einfach nur ganz schnell wieder weg. Die Erinnerungen an gestern Nacht, an die Hand, die ihr den Mund zugehalten hatte, an die Augenbinde und an die verweinte Emilia, die ihr vorgekommen war wie immer und doch wieder nicht, waren einfach noch zu frisch.

„Ach Quatsch. Tagsüber wird hier eh niemand mehr vorbeikommen, der uns interessiert und nachts ist die Kamera dann perfekt versteckt."

„Also gut. Okay, dann lass uns jetzt wieder gehen."

Emilia nickte, schaltete die Kamera an und lief Romy hinterher. Mit den Fahrrädern fuhren sie schweigend durch die kleinen Gässchen, bis sie auf die Hauptstraße gelangten.

„Und was passiert jetzt?", fragte Romy.

„Achtung, bleib stehen." Emilia bremste abrupt ab. „Hier rein", sie kommandierte Romy in eine Seitenstraße.

„Hast du Angst vor denen?", fragte Romy. Um die Ecke am Ende der Hauptstraße, wo sie auf die große Fahrstraße führte, war ein kleiner runder Platz mit einem Brunnen, der aber jetzt im Winter nicht lief. Und genau dort, standen etwa zehn Jugendliche in einer kleinen Runde beisammen und rauchten. Der Qualm bildete über ihren Köpfen kleine Wölkchen.

„Nein, aber jetzt kommt Plan Nummer Zwei."

„Da bin ich aber mal gespannt."

„Wir wollen doch Gewissheit haben, dass diese Leute nichts mit dem Tod von Eliza zu tun haben, oder? Also pass auf: Du gehst jetzt zu denen hin und fragst jeden einzelnen nach irgendetwas Unwichtigem. Das Wichtige ist nur, dass du ihre Stimme hörst, okay? Was die aber nicht wissen werden, ist, dass du dein Handy unter deiner Jacke versteckt und auf Aufnahmegerät geschaltet hast. Dann kommst du wieder und ich hör mir deren Stimmen an, ob sie womöglich mal als Wächter vor meiner Tür gestanden haben."

„Und du meinst, du würdest deren Stimmen wieder erkennen?"

„Auf jeden Fall. Ich hatte dort ja nichts anderes zu tun, als einen Monat lang zuzuhören, wie die sich unterhalten haben."

„Warum kommst du nicht einfach gleich mit?"

„Wenn sie wirklich meine Wachen waren, dann würden die mich bestimmt wieder erkennen."

„Aber mich dann doch auch, oder nicht?"

„Ich bezweifle, dass die, die gestern da waren, heute noch hier sind. Die haben sich doch bestimmt längst aus dem Staub gemacht. Und die anderen wissen dann nicht, dass du gestern auch mit mir eingesperrt worden bist."

„Warum sind die andern dann noch hier und haben sich nicht mit aus dem Staub gemacht?"

„Vielleicht, weil das zu auffällig wäre, wenn die ganze Gruppe von einen Tag auf den anderen einfach so verschwinden würde. Geh schon. Ich warte hier auf dich."

~

„Hallo", sagte Romy vorsichtig, als sie bei der Gruppe angekommen war. Sie sah schon von Weitem, dass Alan diesmal nicht unter ihnen war.

Sie drehten sich, ohne etwas zu sagen, zu ihr um und öffneten wortlos ihren Kreis um sie herein zu lassen.

„Hallo, sieht man sich mal wieder. Hab gehört, du bist berühmt geworden", sagte ein großer, schwarzhaariger Junge.

„Ähm ja, ich wollte euch was fragen", begann Romy zögerlich. Sie sah jeden einzelnen an und versuchte, sich vorzustellen, dass sie in der Rosengasse bei Emilia Wache gehalten hatten. Es waren insgesamt neun Jungen und zwei Mädchen, alle sahen sie erwartungsvoll an. Sie konnte nicht sagen, warum, aber irgendwie war sie enttäuscht, dass Alan nicht dabei war.

„Was willst du denn fragen?" Ja genau, was willst du denn fragen, Romy?

„Also, wir machen in Kunst so ein Projekt..."

„Was für ein Projekt denn?" Gute Frage.

„Also über Farben. Ja genau. Und da wollte ich euch alle mal fragen, was denn eure Lieblingsfarbe ist. Weil da müssen wir irgendwelche Leute befragen und dann eine Tabelle erstellen, wo wir in Mathe dann die Prozentsätze ausrechnen von den Leuten, die dunkle Farben mögen und..."

„Grün", unterbrach sie ein kleiner Blonder und Romy war ihm dankbar dafür. Was zur Hölle sollte das denn bitte für ein Projekt sein, dass sie sich da gerade ausgedacht hatte? Das konnten die ihr doch eigentlich nicht glauben.

„Weiß", sagte das eine Mädchen mit braunen Locken und einem sehr dreckigen Gesicht. „So wegen Unschuld und so."

„Ich auch grün."

„Grau. Ein Schneematschgrau."

„Rot."

„Neonpink."

„Schwarz."

„Lila."

„Okay danke. Das war es auch schon", sagte Romy, als sie von allen etwas gehört hatte.

„Kein Problem." Die wirken alle so normal, dachte Romy. So überhaupt nicht gefährlich oder böse.

Sie zögerte kurz, dann fragte sie: „Wo ist eigentlich Alan?"

„Der hat ein Rendezvous." Es klang wie Rondefutz.

„Er hat ein was?"

„Ein Rendezvous. Keine Ahnung, jedenfalls trifft er sich mit einem Mädchen."

„Genau. Der war den ganzen Tag schon so hibbelig und macht uns alle ganz kirre", ergänzte der kleine Blonde. Beim Sprechen wackelte die Zigarette in seinem Mundwinkel.

„Okay, dann vielen Dank für eure Auskunft."

„Viel Erfolg bei deinem Projekt."

„Ciao." Es klang wie Schau.

Romy drehte sich um. Das Zischen einer in den Schnee geworfenen, erlöschenden Zigarette. Ferner Verkehrslärm. Leise rieselnder Schnee. Das Übliche. Aber ihr Herz fühlte sich seltsam dumpf an.

„Und?", fragte Emilia, als Romy um die Ecke bog.

„Alles im Kasten. Lass uns zu mir fahren und die Aufnahmen anhören."

„Romy, es ist Viertel vor drei. Gehst du zu Alan?"

„Nein."

„Und warum?"

„Er trifft sich mit einem Mädchen."

„Woher weißt du das?"

„Das hat so ein Blonder gesagt. Er sei schon ganz aufgeregt gewesen deswegen."

Emilia fing an zu lachen. „Was glaubst du, wie viele Mädchen dieser asoziale Typ kennt?"

„Ähm..."

„Und was glaubst du, wie viele von denen sich mit ihm treffen würden?"

„Ähm...", machte Romy wieder.

„Genau. Null. Niente. Nada. Nichts. Es gibt keine Mädchen. Dieser Typ meinte dich."

„Bist du sicher?"

„Total. Geh hin. Ich fahr schon mal zu dir nach Hause und höre mir die Aufnahmen an."

„Okay. Hier ist der Schlüssel. Ich bin bestimmt auch gleich wieder da." Romy nahm ihr Fahrrad. „Ich hab dich lieb. Bis gleich." Sie musste lächeln.

„Bis gleich", murmelte Emilia, aber sie hatte ein schlechtes Gewissen bei dem Plan, der gerade anfing, in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. Andererseits, Romy hatte ihr ja den Schlüssel gegeben. Trotzdem, es war Verrat.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now