9. Kapitel

121 27 4
                                    

Romy lief allein durch den mit Leuchtstoffrohren beleuchteten Gang im Kellergeschoss des Olympiazentums, sie war auf dem Weg zu den Duschen. Plötzlich zerrte jemand an ihrem Arm.

„Halt. Bleib stehen", Romy zuckte zusammen. Es war Veronika.

„Ich habe noch ein ernstes Wörtchen mit dir zu reden. Hier rein!" Sie stieß die Tür zu einem unbenutzten Umkleideraum auf und schubste Romy hinein.

„Sag mal, spinnst du? Lass mich los. Ich hab nichts gemacht."

„Ahaha", sagte Veronika ausdruckslos. „Oh mein Gott, du bist so eine Heuchlerin. Ich hab ja schon viel erleben müssen, aber so was wie du ist mir noch nie untergekommen."

„Also erstens einmal, du darfst Romy zu mir sagen und zweitens einmal: Von was bitte redest du?" Romy hatte bis eben noch in ihrer Wolke aus vollkommenem Glück geschwelgt und es fuchste sie, dass Veronika ihr das jetzt mit ihren unbegründeten Aggressionsausbrüchen kaputt machen musste.

„Das weißt du genau. Tu nicht so."

„Gut, wenn du willst. Schön, dass wir das geklärt haben. Dann kann ich jetzt ja gehen, danke."

„Nein!"

„Lass mich einfach in Ruhe", schrie Romy. Sie stockte. Was war nur los mit ihr? Sie hatte sich und ihre Gefühle doch sonst so gut unter Kontrolle. Wann war sie das letzte Mal laut geworden? Wieso machten ihr diese Zickereien von Veronika heute etwas aus?

„Das werde ich nicht", sagte Veronika mit einer gefährlich leisen Stimme und drückte Romy ohne Vorwarnung mit dem Rücken gegen die kalte Wand der Umkleide. „Ich weiß genau, was du gemacht hast." Ihr Gesicht war jetzt nur noch zehn Zentimeter von ihrem eigenen entfernt.

„Du hast dich hier illegaler Weise reingeschlichen. Eigentlich darfst du gar nicht hier sein. Du hast dich viel zu kurzfristig angemeldet. Du warst nie bei den Vorbereitungswettbewerben, du warst nie bei Jugend trainiert für Olympia. Du bist viel zu jung. Du bist noch ein Kind", zischte Veronika. Ein Haken an der Wand bohrte sich schmerzhaft in Romys Rücken.

„Lass mich jetzt einfach gehen", versuchte sie es mit ruhiger Stimme.

„Du hast dich bei der Jury eingeschleimt. Hast deine große Show abgezogen. Ich muss schon sagen, deine Tränen waren echt überzeugend."

„Jetzt reicht's!", brüllte Romy. In ihr brodelte die Wut. „Was bildest du dir eigentlich ein? Du bist ja völlig verrückt."

„Und das alles", fuhr Veronika ungerührt fort „Nur um mir meine Medaille wegzunehmen. Wärst du nicht, dann wäre ich jetzt nicht Zweite. ICH gehöre auf den ersten Platz. Nicht du, verstehst du?"

„Was verdammt nochmal ist dein Scheißproblem?", schrie Romy. Die unbändige Wut erfüllte ihre ganzen Gedanken. Da war kein Platz mehr für Angst.

„Und jetzt wollen wir die Medaille ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben." In ihren Augen lag ein irrer Glanz.

„Nein, das wollen wir nicht!" Romy drückte Veronika mit aller Kraft von sich weg. Sie stolperte nach hinten, Romy sprang zur Seite und ging in Abwehrhaltung.

„Gib sie mir. Du kannst es dir ganz leicht machen, Romy."

Romy bewegte sich vorsichtig rückwärts Richtung Tür. „Du bist doch total irre", murmelte sie.

„Ich bin irre? Und was bist du dann? Du schreist doch hier gerade die ganze Zeit rum."

„Ich habe mir nichts erschlichen, klar? Ich war einfach nur besser als du. Und deshalb werde ich jetzt gehen", sie drückte blitzschnell die Klinke hinter ihrem Rücken herunter, schlüpfte auf den Gang und schlug die Tür hinter sich zu. Dann nahm sie die Beine in die Hand.

„Du warst NICHT besser" hörte sie es noch einmal hinter sich kreischen.


~


Am Sonntag fand die Abschlusszeremonie statt. Sie war unendlich lang und Romy wünschte sich während der ganzen Zeit sonst wohin. Daran war zum größten Teil Veronika Schuld. Sie mussten drei Stunden in unmittelbarer Nähe beieinander stehen und sie warf ihr die ganze Zeit vernichtende Blicke zu. Romy traute sich am Ende nicht mal mehr alleine auf die Toilette zu gehen, aus Angst Veronika würde ihr wieder auflauern. Sie hatte es geschafft, dass sich Romy am Ende doch freute, dass ihre Zeit hier zu Ende ging und das ärgerte sie maßlos.

Sie musste schließlich noch ein Interview geben, das zum Glück nicht die Fledermaus führte und dann war ihre Woche bei Olympia auch schon vorbei. Romy fragte sich, wie die Zeit es geschafft hatte, so schnell an ihr vorbei zu gehen.

Den Montag verbrachte sie noch mit Thea, Erik und Eunice. Kelly hatte noch irgendwas mit einem Sportbund abzuklären und war nicht dabei. Sie gingen zusammen in Theas Lieblingscafé und machten danach einen Spaziergang an der Themse. Hier in London lag nicht das kleinste Krümelchen Schnee, aber kalt war es trotzdem. Ihr Atem bildete weiße Wolken, der aussah wie Zigarettenqualm, was sie unwillkürlich an den Drogenboss denken ließ.

Vor ihr liefen Erik und Eunice Hand in Hand und lachten albern wie kleine Kinder.

„Keinen Trübsal blasen", flüsterte Thea ihr zu und hakte sich bei ihr unter.

„Nein, das sollte ich wirklich nicht", antwortete sie und lächelte ihr zu. Eigentlich war das Leben nämlich doch schön. Sie verbannte Veronika, den Drogenboss, die Fledermaus, Emilia und ihren Vater aus ihren Gedanken. Sie sah zu Erik und Eunice, die sich anscheinend nach all den Jahren immer noch wirklich liebten. Sie sah zu Thea, die nicht versuchte die Stille mit Worten zu füllen, sondern einfach nur da war. Sie dachte an ihre Mutter und an Kelly und sie spürte, wie diese Menschen ihr Halt gaben. Sie wusste, dass es richtig gewesen war, herzukommen.

„Danke", flüsterte sie und staunte über ihre Ehrlichkeit. Thea nickte nur. Sie verstand sie wahrscheinlich.

Ihre Eltern hatten sich genauso geliebt wie Theas, das spürte Romy auf einmal. Sie hatte sich nie groß Gedanken darüber gemacht, hatte es einfach als die Normalität hingenommen, aber das war es nicht. Es war nicht normal. Es war etwas Besonderes. Die Liebe war das Geschenk, das Gott den Menschen im Ausgleich für den Tod gab, dachte sie. Und es war ein würdiger Ausgleich.

„Danke", flüsterte sie noch einmal.

Am Dienstag Nachmittag flog sie gemeinsam mit Kelly wieder nach Hause.


MedaillenblutWhere stories live. Discover now