24. Kapitel

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Alan hatte die ganze Nacht kaum geschlafen. Er hatte sich den Kopf über Romy und das Treffen gestern zerbrochen. Er hatte sich geärgert, geschämt. Wollte die Zeit zurück drehen. Nochmal von vorn anfangen, nochmal mit ihr auf der Bank sitzen, ihr alles erzählen. Keiner Frage ausweichen, nicht mal der, deren Antwort sein Herz gebrochen hatte.

Aus irgendeinem Grund, den er nicht benennen konnte, wollte er, dass Romy Bescheid wusste. „Nicht bedauern, handeln!", hatte seine Cousine immer gesagt und Alan spürte, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, diesen Rat umzusetzen.

Er nahm seine Jacke und machte sich auf den Weg zu Romy.

~

Als Veronika in die Straße zu Romys Haus einbog, hatte es gerade angefangen leicht zu schneien. Sie sah schon von Weitem eine schwarze Gestalt, die wieder aus dem Vorgarten heraus auf die Straße trat. Es war nicht irgendeine Gestalt, es war die Gestalt, die sie suchte. Konnte es so einfach sein?

Je näher sie dem Haus kam, desto nervöser wurde sie. Was sagte man sich, wenn man sich sechs Jahre lang nicht mehr gesehen hatte? „Hallo, wie geht's so?", schien ihr eine unpassende Einleitung zu sein.

Aber die schwarze Gestalt sah ihren dunkelblauen Wagen nicht. Sie überquerte direkt vor ihr die Straße und verschwand in einer kleinen Seitenstraße, die so eng war, dass sie mit ihrem Auto nicht hineinpasste.

Veronika fluchte. Sie durfte ihn jetzt nicht verlieren. Jetzt, wo sie ihn gerade gefunden hatte, durfte er nicht sofort wieder verschwinden. Sie suchte verzweifelt nach einem Parkplatz, damit sie ihm hinterherrennen konnte, aber der Straßenrand war voll geparkt. Sie fuhr die Straße auf und ab und konnte es nicht fassen, dass das Wiedersehen daran scheitern sollte, dass sie keinen Parkplatz fand.

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Bei Romy war niemand zu Hause gewesen. Der einzige Ort, an dem Alan sich jetzt noch vorstellen konnte, dass sie dort sein konnte, war die Sporthalle im Nachbardorf. Wenn sie dort auch nicht war, würde er zurück fahren, sich auf die Stufen vor ihrem Haus setzen und warten, aber jetzt wollte er erstmal alles versuchen, um so schnell wie möglich zur Turnhalle zu gelangen.

Ismael war der Einzige, der ein eigenes Auto besaß und er war Alan sowieso noch etwas schuldig, weil er letzte Woche seine Schicht übernommen hatte.

Es dauerte tatsächlich nicht lange, Ismael davon zu überzeugen, ihm seinen kleinen grünen Wagen zu leihen. Wenn er ihn heute Abend unversehrt zurückbrächte, wäre alles in Butter, so Ismael und er händigte Alan ohne zu zögern die Schlüssel aus.

Jetzt zahlte es sich aus, dass er immer mal für Navin kleine illegale Botengänge mit dem Auto erledigen hatte müssen.

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Gerade als Veronika entschieden hatte, das Auto einfach auf der Straße stehen zu lassen, um noch eine reelle Chance zu haben, ihn in dem Straßengewirr wiederzufinden, sah sie, wie ein kleiner grüner Wagen aus einer der Seitenstraßen weiter vorne geschossen kam und ohne zu blinken nach links abbog.

Er saß am Steuer.

Ohne groß zu überlegen, gab Veronika Gas und fuhr dem grünen Auto hinterher.

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Auch wenn es erst das sechste Mal war, dass Alan am Steuer eines Fahrzeuges saß, ging die Fahrerei ziemlich gut.

Nach ungefähr fünf Minuten, hatte er das Nachbardorf erreicht und auch die Sporthalle war schnell gefunden. Als er auf den Platz vor dem großen Gebäude fuhr, sah er Romy schon von Weitem. Sie war gerade dabei, mit drei anderen Leuten in einen grauen VW zu steigen.

Die eine Person war ganz klar ihre Trainerin, er hatte sie im Fernsehen gesehen, die andere war ein junges Mädchen, wahrscheinlich eine Freundin von Romy. Nein, nicht nur irgendeine. Das war diese Emilia. Die verschwundene Prinzessin. Sah ganz so aus, als wäre sie nicht mehr so sehr verschwunden. Der Dritte war ein Mann, den Alan noch nie zuvor gesehen hatte.

Er wollte aussteigen, auf sie zurennen, schreien, sie mögen anhalten, aber es war zu spät. Die silbern schimmernde Tür schlug mit einem endgültigen Knall zu und der Wagen setzte sich in Bewegung.

„Nicht bedauern, handeln", wiederholte er in Gedanken die Worte seiner Cousine und trat dann entschieden aufs Gas, um dem VW zu folgen.

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Sie fuhren eine Zeit lang schweigend.

Dann traute sich Emilia schließlich zu fragen: „Wohin fahren wir eigentlich?"

Tino antwortete nicht gleich und als er dann antwortete, klang es traurig: „Wie gesagt, nach Frankreich. Zu meiner Kirche. Wir sind jetzt maximal eineinhalb Stunden unterwegs, dann sind wir drüben."

„Du hast eine eigene Kirche?"

„Nicht wirklich, aber ich bin Pfarrer und verwalte diese Kirche sozusagen."

„Sag mal, wem willst du hier eigentlich etwas vormachen?", fuhr Kelly ihn plötzlich an. „Wir sind nicht blöd. Wir wissen genau, dass du nicht aus irgendeiner Laune heraus einfach mal so spontan mit uns nach Frankreich fährst. Wir fahren nämlich nicht, wir fliehen und ich habe keine Ahnung, wovor. Du machst mir Angst, weißt du das?" Sie verschnaufte kurz. „Erzähl uns jetzt alles, was wir wissen müssen. Erzähl von dem Medaillenmensch, der Romy die Drohemail geschrieben hat..."

„Veronika...", warf Romy schnell dazwischen.

„Nichts Veronika", sagte Tino ärgerlich.

„Wer dann?", fragte Emilia vorsichtig.

Tino sah aus, als würde er jedes Wort, das er gleich sagen würde, vorher auf die Goldwaage legen. Er legte den Kopf schief und nach einer Weile antwortete er schließlich. „Ich kenne eine Person, mit der bin ich zufällig näher... bekannt. Diese Person ist ein fanatischer Medaillensammler. Sie möchte aber nicht, das irgendjemand von ihrer Sammlung erfährt. Ich nehme an, dass Romys Mutter Eliza mehr über diese Sammlung in Erfahrung gebracht hat und sich zudem noch geweigert hat, ihr ihre eigene Medaille auszuhändigen. Deshalb musste diese Person sie, nun ja... töten. Ich mache mir Sorgen, dass die Person auch die Medaille von Romy an sich nehmen will, darum denke ich, dass es besser ist, erst einmal von hier zu verschwinden, bis sich die Dinge geklärt haben..."

Romy wusste, dass Tino nicht die ganze Wahrheit sagte. Vermutlich nicht einmal einen Bruchteil. In seiner Erklärung lagen einfach zu viele Ungereimtheiten. Außerdem spürte sie, dass er mehr in die ganze Sache verwickelt war, als er zugab.

Es war ungefähr fünf Uhr am Nachmittag, als sie in dem kleinen französischen Dorf ankamen, in dem Tinos Kirche stand, und das ihnen in Zukunft als Versteck dienen sollte.

~

Veronika wurde langsam unruhig. Sie fuhr ihm schon seit über einer Stunde hinterher und langsam wurde sein Wagen weniger zielstrebig. Hatte er etwa bemerkt, dass sie ihm folgte? Und wo wollte er überhaupt hin? Sie hatte sich die ganze Zeit über gesagt, dass er irgendwann anhalten musste. Dass er dann ausstieg und sie ihm endlich gegenüber stehen konnte. Aber was, wenn er jetzt etwas bemerkt hatte und versuchte, sie abzuschütteln?

Er verließ die Autobahn, fuhr ein wenig Landstraße, dann durch verschiedene kleine Dörfer. Die ganze Zeit hatte es gewirkt, als hätte er ein Ziel vor Augen und jetzt schien ihm dieses Ziel abhanden gekommen zu sein.

Bei diesem Gedanken wurde Veronika etwas klar. Auch er war die ganze Zeit über Jemandem gefolgt und vor ungefähr einer Viertelstunde hatte er diesen Jemand verloren.


MedaillenblutWhere stories live. Discover now