17. Kapitel

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„Findest du es nicht auch etwas seltsam?", fragte Emilia, als sie zwei Stunden später, sich über den frühen Schulschluss freuend bei den Fahrradständern auf dem Schulhof standen. „Dass Butte sich, kaum dass er mich in der vierten Stunde in Reli gesehen hat, also mitgekriegt hat, dass ich wieder da bin, krank schreiben lässt?"

„Wieso?", fragte Romy irritiert. „Achso, du glaubst, Butte hätte was mit deiner Entführung zu tun. Im Ernst jetzt? Das ist doch sinnlos..."

„Hey, wartet mal", rief eine Stimme hinter ihnen. Es war Simon aus ihrer Klasse, der auf sie zugeschlendert kam. „Habt ihr das vorhin in Latein mitgekriegt?"

„Sehen wir etwa aus, als wären wir taub oder blind?"

Simon ignorierte Emilias schnippische Bemerkung. „Wusste gar nicht, dass Konrex auf konjunktivverliebte Typen steht."

„Oh wow. Das ist ja wirklich romantisch. Kon und Kon passt doch super zusammen", sagte sie und ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Kannst du uns jetzt bitte in Ruhe lassen?"

„Stör ich etwa?"

„Stell dir vor." Romy merkte sofort, dass Emilia die ganze Geschichte viel näher ging, als sie nach außen hin zeigen wollte. Die Vorstellung von ihrem Lehrer als Entführer, Mörder oder Ähnlichem jagte ihr ganz schön Angst ein, ansonsten würde sie nicht so abweisend reagieren, denn Simon war eigentlich immer ziemlich nett.

„Ich wollte nur nett sein! Mensch Emilia, du bist einen Monat lang verschwunden gewesen und jetzt den ersten Tag wieder da und das Einzige, was man von dir zu hören bekommt, sind fiese Bemerkungen. Hat man dir in deinem Kerkerloch solche Gemeinheiten erzählt? Wie war's da denn überhaupt? Und Romy ist in den paar Tagen, die sie weg war, berühmt geworden und auch sie redet jetzt anscheinend nicht mehr mit dem gemeinen Volk! Wieso müsst ihr beide denn so zickig sein?"

„Ah! Daher weht der Wind. Du bist auf Klatsch aus. Okay, du willst also wissen, wie es in meinem Kerkerloch war? Gut. Vor allem langweilig. Es war ein kleiner Raum mit einem Bett, einem Schrank, einem Tisch, einem Stuhl und einem kleinen Bad. Die haben mir zweimal am Tag essen gegeben, dafür aber keine frische Luft. War das jetzt erstmal genug für heute? Schön. Romy? Wir fahren!" Und sie schwang sich auf ihr Rad.

„Tut mir leid, Simon. Sie steht noch ein bisschen neben sich", sagte Romy und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Dann fuhr sie ihrer Freundin hinterher und ließ einen verdatterten Simon stehen.

„Komm schon, Mili", sagte Romy. „Du musst doch zugeben, wie unwahrscheinlich es ist, dass Butte derjenige ist, der dich entführt und Mama ermordet hat. Es könnten sogar zwei verschiedene Personen gewesen sein."

„Und warum lässt er sich dann krankschreiben?"

„Zufall", meinte Romy achselzuckend.

„Nach allem, was passiert ist, glaubst du immer noch an Zufälle?"

„Zufälle hören nicht auf zu existieren, nur weil wir eine Zeit hinter uns haben, in der scheinbar alles einen Hintergrund hatte und du deshalb nicht mehr daran glaubst."

„Du glaubst wirklich, dass der Mord und die Entführung nicht zusammenhängen? Romy, ich hab dir doch erzählt, dass ich versuchen wollte auf eigene Faust etwas herauszufinden. In diesem Hauseingang in der Rosengasse, wo sie deine Mutter gefunden haben, habe ich angefangen. Ich habe gehofft, irgendwas zu finden, das die Polizei übersehen hat, einen Zettel hinter einem losen Mauerstein, ein Haar, ein Stück Stoff oder irgendwelche anderen Indizien." Romy musste schlucken. Fast genau das Gleiche hatte sie auch gedacht, als sie sich gestern auf die Suche gemacht hatte.

„Meine Theorie ist, dass irgendjemand ein Geheimnis hat und ich war, wenn auch unwissentlich, nahe dran es zu lüften, deshalb wollten sie mich aus dem Weg schaffen und haben mich dort eingesperrt. Vielleicht war deine Mutter auch nahe dran, dieses Geheimnis zu entdecken oder sie hatte es schon entdeckt und deshalb haben sie sie nicht „nur" entführt, sondern umgebracht. Für mich ist es irgendwie klar, dass Mord und Entführung zusammenhängen und die Rosengasse ist der Schlüssel." Romy nickte, die Erklärung klang irgendwie logisch.

„Ich weiß, dass in diesem Hauseingang dort die Lösung auf uns wartet und ich werde nicht aufgeben, bis ich dieses Rätsel gelöst habe."

„Emilia, das ist kein Spiel. Kein kleines Rätsel. Bei diesem sogenannten Rätsel ist jemand gestorben. Ermordet worden. Wer weiß, was sie mit dir noch alles gemacht hätten. Deine Eltern sind vor Angst und Sorge tausende Tode gestorben, das ist dir überhaupt nicht klar. Ich weiß, wie gerne du Rätsel du magst, aber bei diesem Rätsel geht es nicht um irgendein Lösungswort. Es geht um Leben und Tod."

„Okay, dann überlassen wir das Ganze einfach der Polizei, die seit fast zwei Monaten immer noch nichts herausgefunden hat. Wir könnten zur Polizei gehen und denen alles erzählen, was wir wissen oder vermuten." Emilia hatte ein hinterlistiges Lächeln aufgesetzt.

„Zur Polizei?"

„Jap genau. Das macht man doch bei einem Kriminalfall. Was dagegen?"

„Die Polizei war da heute doch sowieso schon, weil du denen ja erzählt hast, dass sie dich dort gefangen gehalten haben. Wenn sie da bis jetzt nichts mehr gefunden haben, wieso sollten sie plötzlich, wenn wir ihnen sagen, dass wir glauben, dass das der Schlüssel ist, was finden?"

„Ich frage nochmal: Wieso willst du nicht, dass wir zur Polizei gehen?"

„Ich möchte irgendwie nicht, dass Alan und seine Freunde da hinein geraten. Wenn wir denen von ihnen erzählen, denken sie doch bestimmt, dass sie etwas damit zu tun haben."

„Ha! Wusste ich es doch. Ich kenn dich einfach zu gut. Ich kann die Schwingungen spüren" Emilia schmunzelte. „Aber hey, das ist nicht logisch. Du denkst doch auch, dass die in dieser Geschichte eine Rolle spielen, oder?"

„Ganz ehrlich – ich weiß es nicht." Zum einen war da die verdammte Wut auf ihn und auf der anderen Seite die Verzweiflung, dass sie einfach nicht wütend auf ihn sein konnte, weil er... so ehrlich geklungen hatte. Ja, vielleicht war ehrlich das richtige Wort. Romy war sich immer noch nicht sicher, ob sie heute zu dem Treffen, das er vorgeschlagen hatte, kommen würde. „Immerhin besser, als Herrn Butte zu verdächtigen", verteidigte sie sich müde. „Das machst du doch nur, weil du ihn nicht leiden kannst."

„Komm schon. Welcher Lehrer unterrichtet bitte Reli und Bio? In Reli erzählt er uns, der Mensch sei aus Lehm, in Bio, dass er aus Fleisch und Knochen sei. Der widerspricht sich total."

Sie fuhren eine Weile schweigend nebeneinander her. „Okay, wir gehen nicht zur Polizei", brach Emilia schließlich die Stille. „Aber ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat. Ich ertrage es einfach nicht, nichts zu wissen. Das macht mich verrückt."

„Schon gut. Mich ja auch", gab Romy nach. „Aber ich habe echt Angst."

„Ich pass doch auf dich auf. Dieses Mal gehen wir geplanter vor. Ich habe schon eine Menge Ideen."

MedaillenblutWhere stories live. Discover now