20. Kapitel

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Das Tor des Spielplatzes quietschte. Romy trat ein. Auf dem Klettergerüst saß ein einsames Mädchen. Es war vielleicht elf Jahre alt. Auf einmal kamen alte Kindheitserinnerungen wieder in ihr hoch.

Klein-Romy auf der Schaukel. „Höher. Höher", schreit sie und Mama schaukelt sie immer höher und höher. Und Papa steht daneben und sieht glücklich aus. Klein-Romy jauchzt vor Freude und lacht ein helles Kinderlachen. Sie wird nicht müde, immer wieder „Höher, höher" zu rufen und Mama schaukelt Klein-Romy immer noch höher. Bis in den Himmel. Und Papa lacht. Papa lacht. Lacht. Lacht.

Er hatte seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr gelacht. Jetzt gab es nur noch das traurige Papabild.

Der Spielplatz war kein guter Ort. Er führte ihr einmal mehr vor Augen, was sie alles verloren hatte. Das alles zu vergessen und zu verdrängen war doch so viel einfacher.

Der Schmerz, den die Erinnerungen in ihr hervorriefen, drohte Romy gerade zu überwältigen, da trat Alan hinter dem Karussell hervor.

„Romy!", rief er und bei seiner Stimme zuckte das kleine Mädchen auf dem Klettergerüst zusammen. Sie blickte auf und als sie ihn sah, sprang sie blitzschnell von ihrem Hochsitz herunter, flüchtete an Romy vorbei und durch das Spielplatztor nach draußen.

Romy antwortete ihm nicht und er kam zögerlich auf sie zu. „Ich bin froh, dass du gekommen bist", seine Stimme klang unsicher.

Er trug eine schwarze Hose und ein dunkles T-Shirt. Seine Haare starrten vor Dreck. Sie konnte den Blick aus seinen dunkelbraunen Augen mal wieder nicht deuten.

„Warum sagst du nichts?"

„Du hast mich herbestellt, weil du etwas sagen wolltest."

Er verschränkte die Arme vor der Brust und diese Geste ließ ihn extrem verletzlich wirken. Sie standen sich gegenüber, und doch wieder nicht, denn zwischen ihnen waren drei Meter Platz.

„An diesem Donnerstagabend bei der Fabrik, da hab ich dich durch das Fenster gesehen. Ich habe gesehen, dass du Hilfe gebraucht hast. Und ich habe beschlossen, dass es nicht nötig war, dir zu helfen. Ich habe beschlossen, dass es wichtiger war, meine eigene Haut zu retten."

Er hielt inne.

„Die Polizei hat nach diesem Vorfall nicht mehr nach uns gesucht. Das lässt mich schließen, dass du uns nicht verraten hast. Ich hatte dich angelogen und trotzdem hast du uns nicht verraten. Ich kann das nicht verstehen, das war echt verdammt selbstlos." Seine Stimme zitterte, als kostete ihn dieses Geständnis große Kraft.

„Du hast mich angelogen?"

„Ich wusste, wie wichtig dir deine Freundin ist und deshalb habe ich gesagt, dass wir wüssten, was mit ihr geschehen ist. Ich wusste keinen anderen Weg, dich dazu zu bringen."

„Warum habt ihr das nicht einfach selbst gemacht?"

„Keiner von uns versteht sich mehr gut mit Navin." Die Antwort klang wie eine Ausrede.

„Also wusstet ihr wirklich nicht, wo sie war?"

„Nein, nicht die geringste Ahnung."

„Warum erzählst du mir das alles?"

„Können wir uns setzen? Ich fühle mich irgendwie..." Er machte eine Pause, als suchte er nach dem richtigen Wort. „Verloren", es war kaum mehr als ein Flüstern.

Romy nickte nur. Von dem selbstbewussten, fast schon gefährlichen Drogenboss, der die coolen Sprüche drauf hatte, war nicht viel mehr als ein Schatten übrig geblieben.

Alan wischte von einer Sitzbank den Schnee herunter und zum Vorschein kamen bunte Graffiti. Er setzte sich. Romy setzte sich auch, jedoch ans andere Ende der Bank, um so viel Abstand wie möglich zwischen sie zu bringen.

Von Weitem hätten sie aussehen können, wie zwei Jugendliche, ein Junge und ein Mädchen, die zusammen auf einer Bank saßen und sich unterhielten. Wenn man jedoch näher kam, spürte man die angespannte Stimmung, man sah den Meter zwischen den beiden, man sah, dass sie einander nicht mochten, man sah, dass ihnen dieses Treffen unangenehm war, man sah in ihren Gesichtern den Schmerz, man sah die Verschlossenheit, man sah ihre Traurigkeit, man sah ihre Unsicherheit.

Wenn man näher kam, spürte man die Angespanntheit, die in der Luft hing und sich anfühlte wie drückende Sommerhitze auf der Haut. Wenn man näher kam, dann wollte man auch gleich schon wieder gehen. Mit diesen seltsamen Jugendlichen wollte man nichts zu tun haben.

„Weil ich dich bewundere", sagte er schließlich. „Weil ich das unglaublich finde, was du getan hast. Weil mir das alles so furchtbar leid tut. Dass ich dich der Polizei ausgeliefert habe, dass ich dir Schwierigkeiten beschert habe. Dass es dir wegen mir schlecht geht. Dass es dir überhaupt schlecht geht. Es tut mir unglaublich leid, was deiner Mutter zugestoßen ist. Ich will, dass du weißt, dass ich nichts damit zu tun habe. Dass niemand von uns etwas damit zu tun hat. Ich will, dass du mir das glauben kannst. Ich will, dass du mir vertraust."

„Du weißt, dass ich das nicht kann."

„Ja, ich weiß."

„Das kannst du einfach nicht von mir erwarten. Ich kann niemandem vertrauen. Ich kann dir nicht mal verzeihen. Das kann ich einfach nicht. Gib mir einfach noch ein bisschen Zeit. Ich bin noch nicht so weit."

Alan nickte und wieder verschränkte er die Arme vor der Brust. Romy konnte nicht beschreiben warum, aber es ließ ihn wirklich zerbrechlich wirken. Als müsste er sich selbst vor irgendwas beschützen. Als müsste er sich vor ihr beschützen.

Sie schwiegen sich eine Weile an.

Sie hatte das Gefühl, als wiche die Angespanntheit langsam aus der Luft.

„Ich habe dir zugeschaut bei Olympia", sagte er plötzlich. „Du bist echt gut."

Romy lächelte leicht.

„Ich weiß nicht, was du von mir denkst, aber ich hab keinen eigenen Fernseher. Ich bin immer durch die Kneipen gewandert, um dich zu sehen, aber die meisten zeigen nur die Nachrichten oder die Bundesliga. Aber manchmal lief Olympia und dann habe ich zugeschaut. So lange bis sie mich verjagt haben, weil ich nichts bestellt habe."

Romy war sich nicht sicher, ob ihr das schmeicheln sollte oder ob sie das unangenehm finden sollte.

Sie sagte nichts.

Wieder saßen sie eine Weile schweigend neben einander.

„Ich hoffe wirklich, dass du mir irgendwann glauben kannst", sagte Alan dann.

„Ja." Es hing noch so viel Ungesagtes zwischen ihnen in der Luft. „Warum nehmt ihr eigentlich Drogen? Fühlt ihr euch cool dabei? Das ist doch eigentlich total unnötig, oder?"

Alan sah sie lange an. Dann schüttelte er den Kopf. Es war wie ein Déjà-vu. Es war wie bei der Fabrik. Er schüttelte den Kopf, dann stand er auf, drehte sich wortlos um und ging über den Spielplatz davon.

Romy rief ihm nicht hinterher. Dazu hatte sie keine Kraft. Sie zog die Knie an und schlang die Arme um ihre Beine. Was hatte sie falsch gemacht? Sie wippte vor und zurück, wie sie das als kleines Kind immer gemacht hatte.

Warum war er weggegangen? Sie hatte das Gefühl gehabt, diesen Jungen gerade ein bisschen besser zu verstehen und jetzt war er ihr wieder völlig fremd.

Sie fühlte sich noch einsamer als vor ihrem Gespräch.

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