5. Kapitel

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Da war ihr ja der Schnee lieber gewesen! Wütend stapfte sie durch den nasskalten Schneeregen. Bei jedem ihrer Schritte in dem feuchten Matsch gab es ein ekelerregendes Geräusch.

Mit vor Kälte zittrigen Fingern zog sie den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Fast schon konnte sie eine Stimme aus der Küche rufen hören: „Zieh deine Schuhe draußen aus! Ich möchte nicht, dass du diese Sauerei mit rein bringst." Aber da war keine Stimme. Eine nahezu gespenstische Totenstille lag über dem kleinen Haus. Dieses Haus wurde nicht mehr belebt. Schon lange nicht mehr. Es wurde nur noch bewohnt.

Diesmal legte Romy sofort eine CD ein, nachdem sie das Haus betreten hatte. Sunrise Avenue.

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und legte den Kopf auf die kühle Platte des Eichentisches.

Cause my life belongs to the other side/ behind the great ocean's waves.

Kelly hatte sie total falsch verstanden. Romy war gestern nicht mehr zum Training gegangen und die ganze Zeit hatte sie dieses Wissen bei sich gehabt.

Auf einmal war ihr klar geworden, was Kelly gestern gedacht haben musste. Es hatte wohl so ausgesehen, dass sie bloß Ruhm wollte. Diese Arroganz hatte Kelly nicht gefallen. Dabei war es ganz anders gewesen! Nichts lag Romy ferner, als berühmt werden zu wollen.

Erstens wäre es eine Ablenkung von ihrem Leben, das momentan nur noch ein einziger Scherbenhaufen war und zweitens, was viel wichtiger war, hatte sie instinktiv gespürt, dass sie durch Olympia ihrer Mutter noch ein letztes Mal ganz nah sein konnte. Dass sie es eventuell schaffen würde, Abschied zu nehmen. Denn so konnte sie auf keinen Fall für immer weiter leben!

Nein, sie wollte keine Bewunderung oder Ähnliches. Das Einzige, das sie wollte, war ihre Mutter wieder zu finden und sie wusste, dass sie das im Turnen konnte.

I take a part of you with me now/ and you won't get it back/ and a part of me will stay here/ you can keep it for ever, dear.

Das passte doch irgendwie, aber irgendwie auch nicht. Romy war sich nicht sicher, ob sie dieses Lied noch mochte.

Bye, bye Hollywood Hills/ I'm gonna miss you where ever I go.

Bye, bye, Mama. Ich hab mich nie richtig von dir verabschieden können. Romy brach in Tränen aus. In ihr hatte sich so viel Traurigkeit angestaut. Mama... Papa... Emilia... Dieses Lied hatten sie immer zusammen gehört.

Bye, bye Hollywood Hills for ever.

Der Rhythmus der Musik half Romy, beruhigte sie.

I'm gonna come back to walk these streets again/ Remember, that we had fun together.

Oh ja. Erinnere dich Romy! Du darfst die schönen Momente in deinem Leben nicht vergessen. Sie sind vielleicht das Einzige, das dir noch bleibt.

I'm gonna come back so we can play together.

Emilia war durchs Zimmer getanzt und hatte mitgesungen. Furchtbar schief. Emilia hatte immer gerne gesungen und Romy musste Lächeln. Es war vielleicht doch ein schönes Lied.

Bye, bye Hollywood Holls for ever.

Als die letzten Töne verklungen waren, liefen Romy nur noch stille Tränen über die Wangen. Sie schaltete den CD-Player aus. Das Lied hatte Erinnerungen in ihr hervorgerufen. Vielleicht war Erinnern doch gar nicht so gut. Come back to walk these streets again...

Come back, Emilia. Come back Mama, Papa. I miss you where ever I go!


Nachdem sie noch etwa fünf Minuten so da gesessen hatte, klingelte es an der Tür. Sie überlegte kurz, ob sie es ignorieren sollte, dann nahm sie sich zusammen und ging in den Flur um zu öffnen. Es war Kelly.

Romy starrte sie an und dachte darüber nach, ob sie sich wegen gestern entschuldigen sollte. Sie beschloss, dass sie dazu zu erschöpft war.

„Ich komm dann mal rein", sagte Kelly, der Romys Starrerei zu lange dauerte. Romy trat zur Seite und ließ sie ins Haus.

Energisch hängte Kelly ihre Jacke auf, zog die Schuhe aus, marschierte in die Küche, legte den Ordner, den sie dabei hatte auf den Tisch und fing an, sich ohne zu fragen einen Tee zu machen.

Romy wunderte das nicht. Kelly war mit ihrer Mutter sehr gut befreundet gewesen und hatte sie schon öfter besuchst. Sie kannte sich also hier aus.

Romy schlurfte zurück ins Esszimmer und nahm ihre Position mit der Stirn auf der Tischplatte wieder ein.

„Es wäre für mich jetzt mal an der Zeit nach dem Warum zu fragen", rief Kelly aus der Küche.

Romy seufzte. „Wir haben das doch gestern schon besprochen. Es ist okay. Es war eine blöde Idee. Schon klar."

„Ich habe dich etwas gefragt", sagte Kelly streng und setzte sich mit einer dampfenden Tasse zu ihr an den Tisch.

Mühsam richtete Romy sich auf und erklärte noch einmal ganz genau, warum ihr das so wichtig war. „Ich weiß, dass du denkst, ich will nur berühmt werden und dass mir das gerade jetzt nicht gut tun würde", schloss Romy.

„Korrekt bis auf eine Zeitform: Dachte! Mir wurde gestern noch ziemlich schnell klar, dass ich dich falsch verstanden habe und deshalb", sie schlürfte geräuschvoll an ihrem Tee „habe ich gestern noch mit den Mädchen gesprochen. Du hattest Recht. Ihnen ist das alles zu kurzfristig. Sie wollen nicht mit."

Während Kelly gesprochen hatte, war Romy die Kinnlade nach unten gefallen.

„Mund zu, es zieht. Hier", sagte Kelly und schob ihr den Ordner hin. „Das sind die Übungen und Elemente, die wir wiederholen müssen. Du machst mit Boden, Sprung, Balken und Stufenbarren mit. Ich hab dich gestern Abend noch angemeldet. Das ist das Flugticket. Wir fliegen von Frankfurt aus. Wir fliegen Freitagabend und sind dann ungefähr eineinhalb Wochen da." Sie hielt ihr das Telefon hin: „Jetzt rufst du deine Cousine an und klärst das Ganze mit deinem Vater ab. Ich werde die Geschichte mit der Schule regeln. Du hast doch nichts dagegen, wenn die für elf Tage ausfällt?"

Romy sprang auf und umarmte Kelly.

„Nein", sie lachte „Nein, das hab ich nicht. Danke." Auch Kelly musste grinsen, aber sie hielt ihr nur weiter kommentarlos das Telefon hin.

Jetzt zitterten ihre Finger vor Aufregung beim Wählen. Ihre Tante ging dran.

So gut es ging, sprudelte sie ihr Anliegen auf Englisch hervor. Ihre Cousine Thea und ihr Onkel Erik, der Bruder ihrer Mutter, sprachen beide ziemlich gut Deutsch. Ihre Tante Eunice konnte zwar auch Deutsch, aber sie hatte einen so schrecklichen Akzent, dass man sie kaum verstand, deshalb blieb Romy gleich beim Englischen.

Bitte sag ja. Bitte, sag ja, murmelte Romy vor sich hin und kaute an ihren Fingernägeln.

„I think", sagte Eunice schließlich „We can do it!"

In diesem Moment hätte es Romy nicht gewundert, wenn ihr Flügel gewachsen und sie auf den Schwingen des Glücks davon geflogen wäre.


MedaillenblutWhere stories live. Discover now