32. Kapitel

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„Okay, Romy. In gewisser Weise bin ich an dem Ganzen hier Schuld. Tino und ich genauer gesagt."

„Halt Stop. Nicht so schnell. Woher kennst du ihn überhaupt?"

„Warte. Ich erzähl dir die ganze Geschichte. Tino war in der Schule mein bester Freund."

„Ihr wart zusammen in der Schule?"

„Ja. Lass mich doch ausreden. Das ist jetzt schon dreißig Jahre her. Und Vladislav war auch in unserer Stufe."

Romy starrte ihn ungläubig an. Gleichzeitig erfasste sie eine seltsame Form der Erregung, da sie gleich all das, was bis jetzt noch verworren schien, in einen Zusammenhang würde setzen können.

„Es war kein Zufall, dass er gerade als du bei Olympia warst Trainer war. Ich hätte dich nie fahren lassen dürfen. Ich habe mir im Nachhinein solche Vorwürfe gemacht, aber wahrscheinlich hätte das sowieso nicht viel geändert. Ich habe gesehen, dass du diese Ablenkung gebraucht hast, um das mit Mama verarbeiten zu können und da habe ich es nicht über mich gebracht, es dir zu verbieten.

Vladislav kam mit sechs Jahren nach Deutschland. Er hat vorher mit seinem Bruder und seiner Mutter in Russland gelebt und ging dann auf unsere Schule.

Ich versuche dir mal ein Bild von ihm zu geben, denn ich glaube, das ist wichtig, damit du verstehst, wie alles passieren konnte. Ich habe mich nie sonderlich für ihn interessiert, niemand hat das, aber als ich bemerkt habe, dass er versuchte, die Prophezeiung umzusetzen, habe ich mich mit ihm beschäftigt. Ich habe versucht, so viel wie möglich über ihn herauszufinden, damit ich ihn einschätzen kann.

Er kam also mit sechs Jahren hierher ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Sein Vater war wohl schon früh gestorben. Er hatte einen Bruder, der ungefähr zehn Jahre älter war als er, und seine Mutter, die habe ich nur ein einziges Mal bei einem Klassenfest gesehen, aber das hat gereicht. Eine zutiefst gestörte Frau. Eine kalte Frau und sie hat ihn nie mit den anderen Kindern spielen gelassen.

Kinder sind grausam, Romy. Es wollte nie jemand etwas mit ihm zu tun haben, er war immer nur der komische Kauz, ein unwichtiger, wertloser Mitschüler und wenn wir Gruppenarbeiten gemacht haben, hat jeder gebetet, nicht mit ihm zusammen zu kommen.

Vielleicht als er elf oder zwölf war, wurde seine Mutter in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und er wurde zusammen mit seinem Bruder von einem älteren Ehepaar adoptiert. Es hat sich nichts verändert, außer dass er auf einmal einen anderen Nachnamen hatte. Ab da stand dann Vladislav Berger auf der Klassenliste, aber es hat niemand nachgefragt.

Er hat ziemlich schnell Deutsch gelernt und war sogar ziemlich intelligent. Er wollte aber gar nichts mit den anderen zu tun haben. Ich schätze mal, zu Hause war ihm immer eingetrichtert worden, dass er nichts wert sei, dass er ungewollt war und keine Gefühle haben sollte. Ich habe auch einmal gesehen, dass sein Bruder ihn nach der Schule verprügelt hat, aber ich habe weggeschaut. Ich habe nichts gemacht und es verdrängt. Ich weiß, Romy, schau mich nicht so an.

Es herrschte also Gewalt bei ihm zu Hause und in seiner neuen Familie wurde nicht viel anders. Ich glaube, ihm wurde von seiner ganzen Umwelt regelrecht eingetrichtert, Dreck zu sein.

Tja, und seine Mitschüler, also wir, haben das nicht besser gemacht. Wir haben ihn Fledermaus genannt wegen seinen Ohren, so wie du das auch machst, oder er hieß allgemein nur „Der Russe".

Er hatte keine schöne Kindheit, aber das soll nicht darauf hinaus laufen, dass ich ihn verteidige. Ich will nur versuchen, zu erklären, wie seine psychische Störung zustande gekommen ist. Vielleicht hat seine Mutter ihm das auch vererbt, aber all so was staut sich natürlich an, das kommt alles irgendwann zusammen. Er hat nie gelebt und das ist keine Entschuldigung, aber es erklärt vielleicht ein kleines bisschen, wieso er krank geworden ist.

MedaillenblutWhere stories live. Discover now