25. Kapitel

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Ihre Gedanken machten sie verrückt und zudem pfiff die ganze Zeit ein kalter Wind durch das kleine undichte Fenster und ließ sie frösteln. Romy stand auf und lief in der kleinen Sakristei auf und ab um warm zu werden.

Tino wollte neue Gesangbücher besorgen und Kelly und Emilia hatten sich im Dorf auf die Suche nach etwas zum Essen gemacht. Sie waren zusammen losgegangen und hatten gemeint, dass es am Sichersten wäre, wenn Romy hier bliebe und auf sie wartete.

Romy war also ganz allein in der Kirche zurückgeblieben, Kelly, Tino und Emilia würden frühestens in einer Stunde wieder kommen und sie wusste nicht, was sie bis dahin machen sollte, also beschloss sie, sich erst einmal die Kirche genauer anzusehen.

Die Kirche war leer, bis auf einen alten Mann, der vor einer Marienfigur kniete und einen Rosenkranz betete. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund fühlte Romy sich hier im großen Kirchenschiff wohler als in der Sakristei. Es herrschte eine majestätische Atmosphäre, eine, die Zuversicht und Hoffnung ausstrahlte. Hier fühlte sie sich sicher. Hier war Gott.

Bei diesem Gedanken musste sie laut auflachen. Der alte Mann warf ihr einen bösen Blick zu und ging dann Richtung Eingang auf das mächtige Kirchenportal zu.

Glaubst du wirklich an Gott, Romy?, fragte sie sich selbst.

Glaubst du an einen Gott, der dir all das angetan und dein Leben zerstört hat? Klingt nach einem netten Gott.

Willst du an solch einen Gott glauben?

Romy musste sich eingestehen, dass sie bis jetzt noch nie richtig über ihren Glauben nachgedacht hatte. Er war immer eine Selbstverständlichkeit gewesen. So war sie aufgewachsen. An Weihnachten und Ostern in die Kirche gehen, Religionsunterricht in der Schule, getauft werden, sich konfirmieren lassen. Sie hatte all das nie in Fragen gestellt.

Aber wenn es wirklich jemanden dort oben gab, dann meinte er es nicht gut mit ihr.

Die Kirchentür schlug zu, der Mann war verschwunden. Romy wischte ihre frustrierenden Gedanken beiseite und begann die Inschriften an den Wänden zu lesen.

Ora et labora. Wer hatte heutzutage denn noch so ein Lebensmotto? Das war doch verrückt, so ein Leben schien für Romy in keiner Weise erstrebenswert. Glaubst du an einen Gott, der von dir verlangt, dich auf diese Weise aufzuopfern?

Sie kam an einem Bildnis des gekreuzigten Jesu vorbei. Die lateinische Inschrift konnte sie nicht übersetzen. Nur ein Wort sprang ihr, wie als würde es leuchten, entgegen: Sacrificium. Opfer. Dabei wurde ihr fast schlecht. Ihre Mutter hatte unfreiwillig ihr Leben geopfert. Ihr Vater würde zum Opfer werden. Sie alle würden Opfer werden. Opfer eines gottlosen Gewaltverbrechens.

Wie naiv konnte man eigentlich sein? Tino hatte gesagt, hier wären sie sicher, aber es reichte doch nicht, sich in einer Kirche zu verstecken. Sie würden sie trotzdem finden.

Die Angst, die Romy die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte, wurde zu Panik. Wie schwerer, dickflüssiger Honig setzte sie sich in jeder Ritze ihres Körpers und ihrer Gedanken fest. Sie rannte los. Nur weg von dem Gekreuzigten, der sein Leben für das vieler anderer gegeben hatte. Geopfert.

Opfer. Opfer. Opfer. Hallte es in ihrem Kopf. Sie alle würden Opfer werden. Sie rannte zu den großen Flügeltüren, aber ihr fiel gerade noch ein, dass sie draußen auf dem großen Platz noch viel eher zum Opfer werden würde. Sie hielt keuchend inne, drehte sich wieder um, versuchte sich zu beruhigen, suchte mit den Augen nach irgendetwas, das ihr Halt geben konnte. Wie eine Ertrinkende ließ sie ihren Blick durch die Kirche schweifen und blieb schließlich an den Opferstöcken hängen. Sie rannte darauf zu. Atemlos schüttete sie den gesamten Inhalt ihres Geldbeutels in den Opferstock und machte sich daran, die Kerzen anzuzünden. Bei dieser Arbeit kam sie langsam wieder zur Ruhe.

Als schließlich alle Kerzen brannten, sank sie auf die Knie und faltete die Hände. „Lieber Gott. Ich bin bereit an dich zu glauben, wenn du mir hilfst. Hilf mir mit meiner Angst fertig zu werden. Hilf mir, hilf den anderen. Zeig mir, dass es dich gibt und lass mich wieder ein normales Leben leben. Hilf mir. Bitte. Amen."

Romy starrte die brennenden Kerzen an und hoffte, dass der helle Lichterschein die Dämonen in ihrem Inneren besiegen würde. Sie hoffte, irgendein Gefühl zu bekommen, dass es besser werden würde, aber nichts geschah, alles blieb still. Auch die Angst blieb.

Auf einmal schlug wieder die schwere Kirchentür zu und Romy hörte ein schweres Lachen hinter sich. Es war laut und hallte von den Kirchenwänden wider, es war schwer und legte sich wie eine starke Faust um ihr Herz. Wenn es nicht aufhörte, dann würde dieses Lachen ihr Herz zerquetschen, dachte sie, dann drehte sie sich ganz langsam um.

Ihr Verstand setzte für einen kurzen Moment aus. Vier Männer standen ihr gegenüber und den dessen Lachen sie schier umbrachte, kannte sie nur zu gut. Du bist so dumm, so dumm. Dumm. Dumm. Dumm. Hämmerten ihre Gedanken. Zu mehr war sie nicht fähig. Wieso hast du nie an ihn gedacht? Wieso? Was machst du hier? Warum bist du nochmal in dieser Kirche?

„Was machst du denn hier?" Seine Worte schienen ihre Gedanken als Echo zu reflektieren. „Dachtest du, du könntest dich verstecken? Du weißt doch, was ich will. Es ist so einfach."

Es ist so einfach. Es ist so einfach. Wieso konnte sie nicht mehr klar denken? Er lachte wieder. Warum tat ihr dieses Lachen so furchtbar weh? Es riss an jeder Faser ihres Körpers. Er war krank. Was machte er hier? Er. Wieso er?

„War unser lieber Valentino das? Das hat er gut eingefädelt, er ist ein guter Kerl." Valentino. Wieso kannte er ihn? Was hatten sie miteinander zu tun? Romy spürte das Netz aus Lügen, das ihre letzten Wochen bestimmt hatte auf ihren Schultern, in der Luft und jetzt schienen alle Entscheidungen, alle Personen, alle Absichten, alle Zusammenhänge zusammen zu laufen und sie konnte sie nicht greifen. Es war wie bei einem Wollknäuel, bei dem sie den Anfang nicht fand. Was sollte das? Was SOLLTE das? Ihr Gehirn drehte sich. Ihre Gedanken verbündeten sich und schienen auf sie einzuhacken, ließen sie nicht in Ruhe. Sie drehten sich und drehten sich, es gab keinen Anfang und kein Ende. Hört auf. Seid Ruhig. Lasst das. Sie sollten aufhören. Ihr Kopf sollte Ruhe geben. Wieso er? „Ahhh", schrie Romy auf.

„Antworte mir doch." Gut, er hatte aufgehört zu lachen. Sie sah die anderen Männer an. Einer war groß, mit einer Statur wie ein Kleiderschrank, er hatte dichte schwarze Haare und einen Vollbart, als sie ihm ins Gesicht sah, erkannte sie mit Schrecken, dass er zwei verschiedenfarbige Augen hatte. Ein Blaues und ein Braunes. Der zweite Mann, der dicht neben ihm stand, war kleiner und hatte kurze, blonde Haare. „Genau, antworte ihm", sagte er. Er bewunderte ihn also. Er war ein kleiner Schleimer. Das Auffälligste an dem dritten Mann waren seine dicken dunkelbraunen Rastalocken. „Sollen wir nachhelfen?", fragte der erste mit den zwei verschiedenen Augen und setzte ein diabolisches Grinsen auf.

Romys Gehirn hatte aufgehört, Fragen zu stellen und sie war ihm unglaublich dankbar dafür. Sie atmete tief durch und dachte nach. Sie wusste nicht, warum diese Männer da waren, aber sie wollten sicherlich nichts Gutes. Sie würde ihnen nicht entkommen. Sie war gefangen.

Da tat sie das Einzige, das ihr in dieser Situation noch einfiel. Sie schloss die Augen, faltete die Hände und betete zu einem Gott, an den sie nicht glaubte. Als sie die Augen öffnete, standen die vier immer noch vor ihr. Er setzte wieder an zu lachen. Er, der es von Anfang an gewesen war. Er, bei dem es so offensichtlich gewesen war. Er.

In diesem Moment ging die Kirchentür ein weiteres Mal auf und eine Person schlüpfte durch den schmalen Spalt ins Innere der Kirche. Ein dünner Streifen Sonnenlicht fiel von draußen auf den Boden. Beinahe wäre so etwas wie ein Lächeln auf Romys Gesicht erschienen. Da hatte sie ihren Beweis. Es gab Gott wirklich. Er hatte ihr Gebet erhört. Die Person war Alan.















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