Kapitel 22

2.1K 102 8
                                    

(Triggerwarnung)

Aurora

Inzwischen ist es draußen dunkel geworden und noch immer ist Nathan nicht hier gewesen. Gerade habe ich das gedacht, schon höre ich Schritte, die sich immer mehr diesem Zimmer nähern. Hoffnungsvoll blicke ich zur Tür. Tatsächlich wird der Schlüssel in diese gesteckt und umgedreht. Zum Vorschein kommt Callum und hinter ihm Mary mit einem Tablett in ihren Händen. Sie lächelt mich an und betritt das Zimmer. Das Tablett stellt sie auf dem Bett ab und dreht sich dann zu mir um. „Was machst du denn in der Ecke auf dem Boden? Komm, dass muss doch fürchterlich unbequem sein. Ich habe dir Suppe gemacht. Der Doc meinte, leichte Kost würde nach einer Panikattacke am besten sein." Sie schaut mich auffordernd an, doch ich schaue einfach nur zurück. Zweifelnd schaut sie zu Callum, doch dieser zuckt nur mit den Schultern. Kein Wunder, dass beide nicht wissen, was mein Problem ist. Sie kennen meine Vergangenheit ja auch nicht. Dafür kenne ich sie einfach zu wenig und dementsprechend habe ich auch kein Vertrauen. Seufzend steht Mary wieder auf. „Werdet ihr mich wieder einsperren?" frage ich leise. Meine Stimme klingt ziemlich gebrochen. Mary dreht sich wieder zu mir und schaut mich entschuldigend an und das ist Antwort genug für mich. Ich nicke traurig und ziehe meine Beine noch stärker an mich heran, bevor ich meinen Kopf auf diese lege und eine Melodie anfange zu summen.

Meine Mutter hat mir das Lied immer vor dem Schlafengehen vorgesungen. Ich habe es von ihr gelernt. Es ist eine meiner Methoden mich zu beruhigen. Allerdings auch eine der stärksten. Daran erkenne ich, wie kurz davor ich bin komplett durchzudrehen.

Einmal habe ich mich bewegt, um ein Kissen und eine Decke vom Bett zu nehmen. Warum muss das Bett auch mitten im Raum stehen? Ich habe versucht es mir so bequem wie möglich zu machen aber natürlich konnte ich in der Ecke nicht schlafen. Wie auch? Mein Körper ist im Überlebensmodus. Ich bekomme auch überhaupt nichts von der Suppe herunter. Ich habe es probiert, aber es klappte nicht. Viel eher kam es wenige Augenblicke wieder raus. Also habe ich das Tablett unangetastet wieder auf die Kommode gestellt.

An sich wäre die Nacht ja aushaltbar gewesen. Ich habe schon öfters Nächte einfach nur unter dem Sternenhimmel gesessen und den Himmel beobachtet, weil ich nicht schlafen konnte. Aber jetzt dieses Gefühl des Eingeschlossen-Seins ruft die Erinnerung so lebendig wieder wach, dass ich zuerst gar nicht mitbekommen habe, dass draußen wirklich ein Gewitter herrscht. Diese Tatsache hat meinen Zustand natürlich nochmal extrem verbessert. Nicht. Ich zittere inzwischen und kann mich auf nichts anderes konzentrieren als meine Erinnerungen.

All die Streiche, die Beleidigungen, teils auch körperliche Strafen tauchen wieder auf. Und ich dachte, ich hätte sie tief genug begraben, sodass sie nie wieder an die Oberfläche kommen. Tja, wohl falsch gedacht. Inzwischen laufen mir nun auch Tränen über das Gesicht, mein Herzschlag hat sich erhöht und von meiner Atmung will ich gar nicht erst anfangen zu reden.

Diesen Zustand dann bis in den Morgen zu halten, empfehle ich euch nicht. Nur leider hat keine meiner Techniken mehr funktioniert. Es war einfach zu extrem, vor allem durch das Gewitter. Meine allerletzte Hoffnung ist, dass Nathan kommt und mich befreit.

Als ich Schritte höre, die sich langsam und schleppend diesem Zimmer nähern, richte ich mich auf. Vielleicht werde ich jetzt endlich befreit. Langsam wird der Schlüssel gedreht und die Tür geöffnet. Tatsächlich ist es Nathan mit einem weiteren Tablett. Verwirrt schaut er das Tablett auf der Kommode ab, ehe er seinen Blick durchs Zimmer schweifen lässt. Als sein Blick bei mir ankommt, werden seine Augen groß. Er sieht ebenfalls sehr müde aus, vielleicht macht es ihm auch zu schaffen, mich hier einzusperren, hoffe ich weiter.

Nachdem Nathan das Tablett auf der Kommode abgestellt hat, kommt er sofort zu mir und hockt sich vor mich hin. Er streckt seine Hand nach mir aus, doch ich zucke verschreckt noch weiter zurück. Auch früher durfte man mich nach so einer Nacht nicht berühren. Traurig lässt er seine Hand sinken „Was kann ich machen, dass es dir besser geht?" fragt er ruhig. Ich schaue ihn nur an, in der Hoffnung er käme selbst darauf. Doch dem ist nicht so, denn er fragt nochmal „Aurora bitte, sag mir, was ich tun soll." Leise flüstere ich „Lass mich frei." Und damit meinte ich erst mal nicht, dass ich von hier weg komme. Das hätten wir auch nochmal diskutieren können. Aber erst mal möchte ich mich wieder frei bewegen können. Aber anscheinend versteht er es falsch, denn er knurrt wütend. Seine Augen werden dunkler ehe er fast schon brüllt „Niemals. Ich werde dich nie gehen lassen und wenn ich dich für immer hier einsperren muss!" Damit steht er auf und verlässt das Zimmer, nicht ohne abzuschließen. So hat er meine letzte Hoffnung zerstört. Ich konnte richtig fühlen, wie etwas in mir brach.

Ich will so nicht leben. Noch viel wichtiger, ich kann so nicht leben, es würde mich innerlich zerstören. Einige Minuten schaue ich noch auf die Tür, durch die eben meine letzte Hoffnung gegangen ist und mit ihr mein Lebenswille.

Denn nun ist es mir egal, ob ich die Polarlichter noch sehe oder nicht. Ich bedaure zwar, dass ich nie so eine Liebe kennengelernt habe, wie meine Eltern sie hatten, aber ändern kann ich es nun auch nicht mehr.

Langsame richte ich mich auf. An der Wand mich abstützend gehe ich zum Badezimmer. Dort öffne ich den Schrank und nehme mir die Schere in die Hand. Ich setze mich auf den Boden und schaue sie wie in Trance wieder an. Keinen anderen Gedanken kann ich mehr fassen. Das einzige was ich denke ist, dass ich endlich frei sein kann. Heißt es schließlich nicht, dass man im Tod frei ist?

Und so kann ich wenigsten noch etwas frei über mein Leben bestimmen. Ich öffne die Schere. Jetzt wo ich die Klinge sehe, kommen doch Zweifel auf.

Der Wind weht, durchs nächtliche Gewitter noch immer sehr stark. Die eine Böe ist so heftig, dass man es selbst im Haus spürt. Dies lässt mich so stark zusammen zucken, dass mir die Schere aus der Hand fällt und sie mich am anderen Arm kratzt. Irgendwie fühlte es sich nach Freiheit an. Ich alleine kann bestimmen, was mit mir passiert. ICH. Und niemand anderes. Wie in Trance greife ich wieder nach der Schere und beginne mich zu schneiden. Ich spüre gar nichts außer dem Gefühl der Freiheit, die mir so wichtig geworden ist.

Daher bekomme ich auch nicht mit, wie ich eine Hauptschlagader erwische. Selbst das ganze Blut nehme ich nicht wahr. Ich bin so fokussiert, dass ich immer weiter mache, bis mir die Schere aus der Hand fällt, da ich keine Kraft mehr habe. Kraftlos kippe ich nach rechts. Bevor ich meine Augen schließe denke ich noch: Immerhin konnte ich über meinen Tod frei entscheiden. Mit einem kleinen Lächeln schließe ich meine Augen.

(Ich möchte einmal anmerken, dass Selbstmord keine Lösung für irgendwas ist. Es gibt so viele Beratungsstellen und Hilfen, die einen unterstützen können, wenn ihr es ohne eure Familien und Freunde wollt. Es gibt immer einen Weg. Und beim finden dieses Weges, gibt es sehr viele Anlaufstellen, die euch helfen.)



Strahle mein PolarlichtWhere stories live. Discover now