Brief 10

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7 Wochen ohne dich

Lieber Kian,

Wie du in den Briefen der letzten Tage und Wochen vielleicht schon bemerkt hast, versuche ich optimistisch zu sein. Aber es wird schwerer, mit jeder Sekunde, die vergeht.

Man merkt deinem Vater an, dass er ungeduldig wird. Keiner weiß, wo du bist und was dich davon abhält, zurückzukommen. Zwar tut dein Vater so als sei das alles Teil eines grandiosen Masterplans, aber ich weiß, dass es nicht so ist.

Deine Mutter macht sich große Sorgen und die Methoden meiner Oma, sie bei guter Gesundheit zu halten, stoßen langsam an ihre Grenzen. Wir wissen noch immer nicht, was mit ihr los ist, deshalb ist es schwer, es zu behandeln. Sie scheint seit Wochen immer schwächer zu werden und deinen Vater belastet das so sehr, dass er nicht mehr als wenige Minuten bei ihr sein kann. Er tut zwar so als läge das daran, dass er so viel zu tun hat, aber in Wahrheit verbringt er die Nächte und die Tage mit irgendwelchen Planungen, an denen er niemanden teilhaben lässt.

Ich muss in der Zeit weiter zur Schule gehen und so tun als sei ich noch daran interessiert, etwas zu lernen und mich auf die Prüfungen vorzubereiten. Dabei höre ich den Lehrern ohnehin nie zu. Ich bin nur dort, um meine Stunden abzusitzen und dann gehe ich sofort zurück in den Palast, in der Hoffnung, dass es etwas Neues gibt. Aber jedes Mal werde ich enttäuscht.

Fast zwei Monate sind es jetzt schon. Vor zwei Wochen hättest du zurück sein sollen. Zwei Wochen hinreisen, eine Woche Aufenthalt, zwei Wochen zurück. So hast du es mir erklärt, ungefähr tausend Mal.

Warum dachten wir, dass es so einfach sein wird? Wir wussten doch, dass der Weg gefährlich ist und vor allem unbekannt. Vielleicht wollten wir uns einfach einreden, dass du so gut vorbereitet bist wie möglich, weil es nichts gab, womit du dich besser hättest vorbereiten können.

Ich war heute mit Boris und Alica bei ihrer Mutter. Sie haben Unterstützung gebraucht und ich Ablenkung. Dieses ständige Gefühl der Hilflosigkeit macht mich verrückt.

Charlie hat dafür gesorgt, dass die Einschränkung des Besuchsrechts, für die mein Onkel gesorgt hat, aufgehoben wurde. Ich bezweifle, dass das legal abgelaufen ist. Jedenfalls waren wir in der Einrichtung, in der sie schon seit Jahren untergebracht ist. Es war seltsam, sie zu sehen, so still und abwesend. So als sei sie eigentlich gar nicht da. Ich erinnere mich ein bisschen an sie, von früher. Daran, dass sie viel gesungen hat und dass sie uns immer dazu gebracht hat, mitzumachen.

Alica hat von einem Mal erzählt, als wir mit ihrer Mama am See waren und ich beim dem Versuch, ihre Haare zu flechten, so viele Knoten reingemacht habe, dass wir sie abschneiden mussten. Ich habe mich wohl total schlecht gefühlt, aber Lillian hat sich bei mir bedankt, weil sie ohnehin einen neuen Haarschnitt wollte.

Sie war echt toll.

Viel davon, wie sie krank geworden ist, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass es verdammt schnell ging und dass es gerade für Boris schwer war mitzuerleben, wie seine Mama sich verändert. Er hatte nie ein gutes Verhältnis zu Anton und als es mit Lili bergab ging, hatte er irgendwie niemanden mehr, der so richtig für ihn gesorgt hat.

Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es für ihn und Alica war, ihre Mutter so zu sehen.

Ich habe mir eingebildet, ich könnte helfen, indem ich versuche, ihre Gedanken zu hören. Ich dachte, sie versucht, mit uns zu kommunizieren, aber kann es durch ihre Krankheit nun mal nicht. Aber in ihr... Da ist absolut gar nichts. Zumindest nichts, das ich hören konnte.

Seitdem tut Boris zwar so, als sei er gut drauf, aber ich weiß, dass es nicht so ist. Charlie hat mir erzählt, dass er Boris eine Freude machen wollte durch den Besuch bei seiner Mutter. Mich hat es gewundert, dass Boris überhaupt mit Charlie über sie geredet hat. Jedenfalls ist Boris jetzt traurig, Charlie besorgt und Alica nervtötend gelassen. Nichts an dieser gesamten Situation scheint sie in geringster Weise zu stören. Ich glaube echt, Anna hat keinen guten Einfluss auf sie. Sie hat ihre ist-mir-egal-Attitüde übernommen und zieht das knallhart durch.

Ich habe keine Ahnung, was ich mit mir anfangen soll. Überall, wo ich hinschaue, sehe ich nur Baustellen. Leute, die Hilfe brauchen, denen ich aber nicht helfen kann. Das frustriert mich so. Ich kann seit Wochen nicht mehr schlafen, weil ich die ganze Zeit das Gefühl habe, dass jeden Moment alles auseinanderbricht.

Wenn ich wenigstens wüsste, dass es dir gut geht. Dass du irgendwann zurückkommst. Dass all diese Worte hier nicht verschwendet sind...


Erwacht- KaltblütigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt