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Silas

Bevor ich zu meiner Oma gezogen war, hatte ich mit meinem Vater in einem kleinen Apartment in der Innenstadt gewohnt. Er hatte diese Wohnung geliebt, und all die Erinnerungen, die er daran hatte.

Auf dem Sofa aus rotem Samt hatten er und meine Mutter sich das erste Mal geküsst. An der Wand dahinter hingen hunderte von Bildern von ihnen. Auf dem langen Balkon, der aufgrund der vielen Pflanzen, eher einem Dschungel glich, hatte meine Mutter um die Hand meines Vaters angehalten. Sie hatten das Kinderzimmer gemeinsam in einem fröhlichen Gelbton gestrichen und primär weiß eingerichtet. Einige der Möbelstücke hatte meine Mutter selbst gemacht.

Die Badewanne war ein Ort großer Freude und Traurigkeit für meinen Vater gewesen. Dort war ich geboren und meine Mutter gestorben. Dort hatte er mich als Baby im Arm gehalten und versprochen, dass er mich immer beschützen würde.

Meine Oma hatte mir das erzählt. Sie war dabei gewesen, hatte die Geburt begleitet und bereits bevor ich auf der Welt gewesen war, gewusst, dass meine Mutter sie nicht überleben würde. Sie hatte viel Blut verloren und war schnell so schwach geworden, dass sie es kaum geschafft hatte, ihren Wehen entgegenzupressen.

Während meine Oma mich gewaschen und in ein Handtuch gewickelt hatte, hatte mein Vater meiner Mutter gutzugeredet, über ihre nassgeschwitzten Haare gestrichen und ständig wiederholt, wie sehr er sie liebte.

Meine Mutter hatte ihn angelächelt, als sie starb. Oma hatte gesagt, selbst, als sie später im Sarg gelegen hatte, hätte man noch gesehen, dass sie in ihren letzten Momenten glücklich gewesen war.

Ich war ewig nicht mehr in der Wohnung gewesen. Manchmal vergaß ich, dass es sie überhaupt gab. Das Haus meiner Großeltern war mein Zuhause. Der Ort, an dem ich mich zurückziehen wollte, wenn ich traurig war. Der Ort, an dem ich mich ins Bett fallen ließ und mich angekommen fühlte.

Alleine dort zu sein wurde schnell zur Gewohnheit. Niemand empfing mich am Küchentisch, niemand blockierte die Bäder und niemand platzte ungefragt in mein Zimmer. Niemand war da.

Oft, nachdem ich mir etwas zu essen bestellt hatte, und realisierte, dass ich alleine diese Mengen nicht verschlingen konnte, stellte ich mir vor, Alica, Boris und meine Oma würden bei mir sitzen. Wir würden uns necken, diskutieren, streiten, quer über den Tisch spucken und versuchen, die anderen anzuschwärzen, damit sie zur Hausarbeit gezwungen wurden.

Dabei war ich mir sicher, dass ein Szenario wie dieses nicht mehr möglich sein würde. Dazu war einfach zu viel passiert. Wir hatten uns voneinander entfernt, hatten Geheimnisse und Pläne, die anderen nicht beinhalteten.

Ich konnte keinen bestimmten Zeitpunkt festmachen, an dem das passiert war. Vermutlich hatte es sich über Monate hingezogen, ohne, dass ich es bemerkt hatte.

Wenn ich darüber nachdachte und begriff, wie einsam ich mich dann fühlte, schaute ich auf meine Hand und stellte mir vor, sie würde in Kians liegen. So wie er es bei unserem Abschied gesagt hatte: Stell dir vor, dass ich neben dir liege, wenn du einschläfst und dass ich deine Hand halte, wenn du dich einsam fühlst.

Diese Erinnerungen kamen mir so vor als stammen sie aus einem anderen Leben. Nun konnte ich nicht mehr damit rechnen, spontan von Oma mit meiner heißgeliebten Lasagne überrascht zu werden oder Nächtelang mit Boris und Alica irgendwelche Knobelspiele zu spielen.

Ich wusste weder, ob ich etwas dagegen tun konnte noch ob ich das überhaupt wollte. Vielleicht war es Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen. Nach vorne zu sehen.

In weniger als einem Monat würde ich bei der ADGD sein. Meine Anfrage, Boris mitzubringen, hatten sie abgelehnt. Mit knappen 1,72 war er angeblich zu klein für ihre Anforderungen. Glauben konnte ich das nicht. Ezra war immerhin auch nicht viel größer.

Erwacht- KaltblütigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt