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Kian

Charlie ruderte entgegen der Strömung. Wir kamen schnell voran und würden mit Sicherheit pünktlich ankommen. Dennoch fragte ich mich, wie es zu der Verspätung meines Vaters gekommen war. Er verlangte von allen Pünktlichkeit und hatte bisher damit geglänzt, selbiges zu liefern. Ich konnte mir nicht erklären, was er mit Alica im Keller zu suchen hatte. Außer Abstellräumen, Lager und dem Verließ, war dort unten nichts.

Mein Vater saß hinter Charlie, ich vor ihm, Silas und Ben an der Spitze des Bootes und Tom und Oliver zwischen uns.

Ich drehte mich zu meinem Vater. Er sah mir bereits entgegen. „Du hättest dir was Anständiges anziehen können."

Ich blickte an mir herab. Ich hatte das an, was Silas mir gestern rausgelegt hatte. Ich fand, das sah akzeptabel aus. Mein Vater trug seine Korsettweste selbst nicht.

„Ich wusste nicht, wie du auflaufen willst", gab ich zurück. Bei diesem Treffen ging es immerhin nicht darum, zu zeigen, wer den besten Schneider hatte. Welche Klamotten ich trug, würde der ADGD egal sein. Mein Vater brauchte einfach einen Grund, sich über mich zu beschweren.

„Was hast du heute Morgen mit Alica gemacht?"

Er zog die Augenbrauen nach oben. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht."

Ich schaute ihn wortlos an. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu verbergen, dass er etwas vor mir verheimlichte. Dann würde ich das auch nicht tun.

„Und ich wüsste nicht, warum du etwas vor mir geheim halten solltest."

Er legte die Ellenbogen auf den Knien ab und lehnte sich nach vorne, sodass er mich an Charlie vorbei ansehen konnte.

„Versuch du erstmal mit dem klarzukommen, was wir dir zutrauen. Vielleicht kommst du dann in den Genuss, dich mit etwas auseinanderzusetzen, das einem König würdig ist."

Mein Vater klang so selbstgerecht, wenn er von sich als König sprach. Manchmal wollte ich ihm klarmachen, dass er nicht so perfekt war, wie er glaubte. Nicht mal meine Mutter, seine Gefährtin, hielt so viel von ihm wie er von sich selbst. Oder zumindest redete sie nicht so von ihm. Sie liebte ihn, das wusste ich. Sie vergötterte ihn. Aber sie hatte mir selbst gesagt, dass er seine Fehler hatte und, dass ich auch welche haben durfte.

Mein Vater tat immer so als sei ich nie gut genug. Als würde immer etwas fehlen. Als müsste ich irgendwas tun oder sagen oder anziehen, um einem Bild gerecht zu werden, das er für würdig erachtete. Aber ich hatte begriffen, dass er, selbst, wenn ich seine Ansprüche erfüllte, nur immer mehr verlangte.

Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte selbst entscheiden, welche Maßstäbe ich mir setzte. Und wenn er damit nicht zufrieden war, dann konnte er ja versuchen, ein Kind zu produzieren, das keinen eigenen Willen entwickelte.

„Ihr zwei solltet endlich aufhören, euch anzuzanken", presste Charlie plötzlich hervor. Er ruderte in konstanter Geschwindigkeit weiter, wirkte nicht so, als würde ihn das mehr anstrengen als seine Worte zurück zu halten. „Alvar ist der Feind. Nicht ihr."

Mein Vater gab Charlie einen Schulterklopfer und lehnte sich zurück. „Weise Worte."

Er schaute mich an. Vermutlich erwartete er eine Entschuldigung. Nicht unbedingt für meine Neugier oder für den Vorwurf, sondern für alles, was ich am Abend des Balles zu ihm gesagt hatte. Wohl vor allem dafür, dass ich mich geweigert hatte, seinem Befehl, Silas wieder nahezukommen, zu folgen.

Entweder ich war zu distanziert zu Silas und mein Vater befürchtete, ihn zu weit von der Leine zu lassen, oder wir standen einander zu nahe und ich sollte dafür sorgen, dass ich ihm nicht wichtig war. Mein Vater wusste selbst nicht, was von beidem ihm lieber wäre.

Erwacht- KaltblütigWhere stories live. Discover now