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Ben hatte immer gewusst: Was er hatte, würde er verlieren. Er hatte sich nie darum bemüht, der Vergänglichkeit des Lebens und allem, was es beherbergte, entgegenzuwirken. Er hatte keine Versprechen gemacht, nie über eine Zukunft nachgedacht und Verlust und Abschied immer wieder erprobt, um im allesentscheidenden Moment lächelnd winken zu können und die Leute, die er liebte, hinter sich zu lassen.

Das Angebot der ADGD, ihn in ihre Reihen aufzunehmen, hatte für ihn mehr bedeutet als die Chance, einem sinnlosen Tod auf dem Schlachtfeld zu entgehen. Es hatte ihm einen Sinn gegeben. Einen Anker. Etwas, das so groß und so mächtig war, dass er es nicht verlieren konnte.

Beinahe zwei Jahre hatte er damit verbracht, Fähigkeit zu erlernen, die kaum jemand lehren konnte. Aufträge zu erfüllen, von denen nie jemand erfahren würde. Fehler zu begehen, die ihn ins Verderben stürzen konnten.

Er hatte sich, seit er denken konnte, darauf vorbereitet, seine Familie und Freunde für den Krieg zurücklassen zu müssen. Er hatte geschworen, mit diesem Leben abzuschließen. Und dennoch hatte es ihn die Jahre über immer wieder zurück in die Stadt verschlagen, nur um für wenige Minuten dabei zuzusehen, wie sein Vater abends den Tisch deckte, seine Mutter ihr Essen daraufstelle und Amelie lustlos in ihrem Teller herumstocherte.

Als er Silas an diesem Mittag bei sich zuhause absetzte, wusste er, dass er sich eilig auf den Weg zurück machen sollte. In wenigen Stunden sollte der Aufklärungstrupp aufbrechen und davor musste er sich physisch und psychisch darauf vorbereiten und der letzten Einsatzbesprechung beiwohnen.

Er fuhr nicht absichtlich die falschen Straßen entlang und bog immer wieder rechts ab, um den Häuserblock, in dem seine Familie wohnte, zu umkreisen. Es dauerte etwa fünf Runden, bis er überhaupt bemerkte, was er da tat und weitere drei, um zu dem Entschluss zu kommen, dass er einen letzten Abschied zu brauchen schien, bevor er sich seiner Mission widmen konnte.

Er parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vor dem Garten einer lieben alten Dame, die Ben und Amelie von Kindheit an mit Keksen und Leckereien versorgt hatte.

Der Platz vor ihrem Haus, von dem aus Ben durch die Bäume direkt in das Esszimmer seiner Eltern sehen konnte, war wie durch ein Wunder immer leer, wenn er kam.

Er stand jedes Mal dort, wohnte seiner Familie bei ihrem Abendessen bei und seufzte schwer, wenn Amelie in ihr Zimmer verschwand und seine Eltern wortlos aneinander vorbeiliefen.

Sein vermeidlicher Tod hatte seine Familie in ihren Grundfesten erschüttert. Sein Fehlen wurde jedes Mal deutlich, wenn das Schweigen am Esstisch so laut wurde, dass der Vater keine andere Wahl hatte als im Hintergrund leise Musik laufen zu lassen, über die sich im Anschluss gestritten wurde.

Oder, wenn seine Mutter ihre Frustration durch irrationale Vorwürfe an Amelie herausließ. Oder, wenn Amelie so wütend wurde, dass sie ihre Hände unter beinahe kochend heißes Wasser hielt, um sich abzureagieren.

Ben konnte sich nicht mehr an das letzte Mal erinnern, das er mit seiner Schwester gesprochen hatte. Bei seiner Verabschiedung war sie nicht dabei gewesen.

Er wusste nicht mehr, was er zuletzt zu ihr gesagt hatte oder sie zu ihm. Er wusste nicht mehr, ob er ihr jemals klargemacht hatte, wie leid ihm sein Verhalten tat und wie gerne er es wiedergutgemacht hätte.

Daran, dass Silas ihre Gefühle nie erwidert hatte, konnte und wollte er nichts ändern. Aber er hätte seinen Einfluss auf den ehemals besten Freund seiner Schwester nie nutzen dürfen, um ihn davon zu überzeugen, mit ihr zu schlafen und sich so seiner Sexualität bewusst zu werden. Ganz egal, wie verletzt er von Silas' Zweifeln gewesen war und wie satt er es gehabt hatte, anderen Jungs als Testobjekt für ihre pubertären Gelüste zu dienen.

Erwacht- KaltblütigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt