Brief 12

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2 Monate, 1 Woche und 1 Tag ohne dich

Lieber Kian,

Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.

Es von deinem Zimmer unbemerkt bis in den Ostflügel zu schaffen, ist so gut wie unmöglich. Letzte Nacht, als ich so in deinem Bett lag und in meiner Nutzlosigkeit versunken bin, hatte ich die verrückte Idee, unter dem Palast einen Tunnel zu graben, um so dorthin zu kommen. Aber dann dachte ich mir, wieso sollte ich es mir schwermachen, wenn es auch einfach geht? Wieso untenrum, wenn oben alles frei ist?

Ich bin also erstmal auf den Nordturm gestiegen. Nicht gerade die beste Idee, das nachts zumachen. Es war kalt, feucht und rutschig. Aber wie du siehst, habe ich es überlebt. Wer weiß, wer weiß, vielleicht hatte ich sogar meinen Spaß dabei, diesen Parcours zu bestreiten. Das war auf jeden Fall etwas Neues. Es war spannend und ja, ich hatte Schiss, aber grade das macht so ein Erlebnis doch aus.

Es war also mitten in der Nacht und ich bin über die Dächer geschliddert, um zum Ostturm zu gelangen. Einmal hatte ich kurz die Angst, ich käme nicht mehr weiter und müsste mich von der Feuerwehr runterholen lassen wie eine Katze von einem Baum.

Es hat mich richtig schockiert, dass ich, nachdem ich durch das Fenster gestiegen bin, wirklich jemanden gesehen habe. Ganz automatisch bin ich davon ausgegangen, all das sei völlig umsonst gewesen und ich würde mal wieder nur einen leeren Raum vorfinden. Aber nein, da war er. Kasimir. Ein verrückter, aber lustiger alter Typ.

Er hat behauptet, er hätte mich erwartet. Da er keine Hose anhatte, sondern nur ein transparentes Gewand, das deutlich mehr gezeigt hat als ich bereit war zu sehen, stehe ich dem kritisch gegenüber.

Ich war total perplex und überfordert. Er hat mich in sein Zimmer gezogen und das Fenster hinter mir geschlossen. Dann hat er mich abgetastet und meinen Körperbau kommentiert. Richtig seltsam. Und er war begeistert von meinem Talisman-Armband.

Er wusste, dass ich bei ihm bin, weil ich Fragen habe. Doch er hat nur in komischen Rätseln gesprochen. Er weiß eindeutig deutlich mehr, als er bereit ist preiszugeben. Es scheint ihm zu gefallen, ein Spiel daraus zu machen.

Ich bin zwar nicht dazu gekommen, meine Fragen zu stellen, aber ich habe trotzdem Antworten bekommen. Er redet gern. Er hat zwar nicht wortwörtlich gesagt, dass du noch am Leben bist, aber ich habe es trotzdem verstanden. Irgendwas von wegen, dein Sand würde noch fallen. Das konnte doch nur eine Sanduhr-Metapher sein. Sowas wie deine Zeit ist noch nicht abgelaufen.

Dann hat er angefangen, über deine Mutter zu reden. Er meinte, er weiß, dass ich versuche, ihr zu helfen, aber dass wir bisher etwas Wichtiges übersehen hätten. „Ist sie krank, weil sie krank ist? Oder ist sie krank, weil sie krank geworden ist? Warum ist sie krank geworden? Warum ist sie krank?", hat er mich gefragt.

Anfangs dachte ich noch, er sei neugierig, vielleicht sogar besorgt. Er hat das so kindlich und naiv rübergebracht. Aber es waren rhetorische Fragen. Als ich ihm erklärt habe, dass wir nicht wissen, was wie krankgemacht hat, hat er gemeint: „Dann ist sie nicht krank."

Dann habe ich mich an Boris erinnert. Daran, dass er mir auch wochenlang krank vorkam, obwohl er eigentlich vergiftet war.

Also stand ich ein paar Minuten später, mitten in der Nacht, vor der persönlichen Waffenkammer deines Vaters, weil das einer seiner Rückzugsorte geworden ist. Seine Wachen haben mich ganz komisch angeschaut, weil ich einfach an ihnen vorbeispaziert bin und angeklopft habe. War vermutlich nicht gerade mein schlauster Moment, aber ich wollte meine Vermutung unbedingt sofort loswerden.

Dein Vater war erst angepisst davon, dass ich ihn jetzt schon nachts belästige, aber als ich ihn dazu gekriegt habe, mir zuzuhören, war davon nicht mehr viel übrig.

Wir haben meine Oma geholt und sie eingeweiht. Stellt sich raus, sie wusste bereites, dass deine Mutter keine Krankheit hat. Dein Vater hat zwar kaum darauf reagiert, aber ich glaube, er ist innerlich komplett ausgerastet. Nur so ein Gefühl.

Ich kam mir auch total dumm vor. Ich habe wochenlang versucht, eine geheimnisvolle Krankheit zu finden, während meine Oma längst wusste, dass die gar nicht existiert. Sie hat sich damit gerechtfertigt, dass sie erst weitere Antworten rausfinden wollte. Ob sie wirklich vergiftet wurde und von wem. Doch das hat sie nicht.

Wir sind also wieder da, wo wir vorher auch waren, mit einem einzigen Unterschied: Dem Wissen, dass irgendjemand deine Mutter tot sehen will.

Erwacht- KaltblütigOnde histórias criam vida. Descubra agora