Brief 19

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Lieber Kian,

es ist schon spät. Wir konnten heute nicht miteinander reden und ich habe keine Ahnung, wo du gerade steckst. Irgendwie glaube ich, du gehst mir aus dem Weg. Ich weiß, dass du in deinem Gemach warst, als ich in der Schule war. Die Vorhänge waren zugezogen und das Bett war schlecht gemacht. Es riecht ein wenig nach dir.

Wenigstens bedeutet das, du bist endlich richtig angekommen. Ich hoffe, du konntest dich ausruhen und schlafen.

Es gibt gerade nichts, das ich lieber tun würde als mit dir im Bett zu liegen. Ich will ganz nah bei dir sein, so, dass das einzige, was ich sehen kann, deine Augen sind.

Mir geht es nicht gut. Und ich habe das Gefühl, du bist der einzige, dem ich das sagen kann, ohne mir vorzukommen als würde ich jammern und nach Aufmerksamkeit schreien. Du bist der einzige, mit dem ich darüber reden will und der einzige, dem ich zuhören will.

Ich habe mich heute mit Ben getroffen. Er hat mich nach der Schule, kurz vor der inneren Mauer abgefangen. Es war komisch, zu ihm ins Auto zu steigen. Anders als früher. Kein Abenteuer.

Wir haben lange nichts gesagt, während er gefahren ist. Ich habe ihn angesehen und versucht zu begreifen, dass er wirklich da ist.

Du musst verstehen, ich dachte eineinhalb Jahre lang, er sei tot. Ich war auf seiner Beerdigung, ich stand an seinem Grab und ich habe mir all die Geschichten angehört, die andere in ihrer Trauer erzählt haben. Ich dachte, ich würde ihn nie wiedersehen. Aber er ist noch da.

Irgendwann habe ich ihn gefragt, ob er erwacht sei. Er hat überrascht gewirkt, weil ich aus dem Nichts direkt zur Sache gekommen bin, aber er hat auch sein zum kotzen überhebliches Grinsen gegrinst, das mich beinahe dazu gebracht hätte, es ihm aus dem Gesicht zu prügeln.

Er hat gesagt, er sei nie tot gewesen. Schon bei seiner Ankunft im Trainingscamp hätte die ADGD ein Auge auf ihn geworfen und ihn ihre Tests machen lassen. Er hätte in den meisten sehr gut abgeschnitten und daher hatten sie Interesse gezeigt. Er hatte also die Wahl, sich noch ein paar Wochen halbherzig ausbilden zu lassen und dann aufs Schlachtfeld und wahrscheinlich direkt in den Tod geschickt zu werden oder der ADGD beizutreten. Und dazu hat er seinen Tod vortäuschen müssen.

Er meinte, man muss mit seinem alten Leben abschließen, wenn man ein Teil davon wird. Die ADGD wird dann zu deiner Familie, zu deinem Leben. Ein Davor gibt es nicht mehr.

Ich habe ihn gefragt, wieso er dann hier sei. Wieso er mir das Bild gegeben habe und sich mir erkläre. Seine Antwort war: „Es ist leichter gesagt als getan."

Er hat mir erzählt, dass er, nachdem er sich eingelebt und mehr Freiheiten bekommen hat, immer, wenn er die Zeit gefunden hat, nach Amelie und seinen Eltern gesehen habe. Und nach mir.

Er wusste von uns. Dieser Depp ist stolz auf mich, weil ich „dem Prinzen der Erwachten den Kopf verdreht" habe. Dieses Arschgesicht fand das lustig.

Ich bin froh, dass er ernster geworden ist, als es um das Bild ging. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagiert hätte, wenn er daraus auch einen riesen großen Witz gemacht hätte.

Irgendwie frage ich mich, was ich damals in ihm gesehen habe. Ich meine, auf der freundschaftlichen Ebene, okay. Die Zeit mit ihm ist immer extrem lustig und spannend. Es gibt niemanden, mit dem man besser Scheiße bauen kann, außer Boris vielleicht. Aber warum war ich in ihn verliebt? Manchmal kann ihn trotz seiner zweifelsohne existierenden guten Eigenschaften nicht mal leiden. Es nervt mich, dass er nie etwas ernst nehmen kann und ich weiß, dass das mit uns nicht gut geendet hätte, wenn es noch etwas länger gegangen wäre. Dafür ist er viel zu sprunghaft. Und ich viel zu schnell genervt von ihm.

Vielleicht lag es daran, weil er nun mal verfügbar war. Ich kannte sonst niemanden, der auch Interesse an Jungs hatte und er hat mir gezeigt, was es ist, das da in mir vor sich geht. Ich mochte es, dass er genau wusste, was er wollte und dass er das Selbstbewusstsein hatte, es sich einfach zu nehmen.

Ich würde gerne richtig mit dir darüber reden. Und vor allem über uns. Ich hoffe, meine Annahme, du würdest mich ignorieren, stellt sich als falsch heraus.

Vielleicht schlüpfst du ja heute Nacht zu mir ins Bett? Ist ja immerhin deins. Ich hätte nichts dagegen. Ich würde mich freuen.

Erwacht- KaltblütigWo Geschichten leben. Entdecke jetzt