24. Dezember 2015 - Victoria

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Es war bereits Mittag, als Papa mich, wie immer auf den letzten Drücker, zum alljährlichen gemeinsamen Christbaumkauf, in die Wälder außerhalb von London, drängte. Hektisch band ich meine wilde, haselnussbraune Mähne zusammen, gab meiner Mutter in der Küche einen Kuss zum Abschied, ehe ich mich mit meinem Vater auf die Suche, nach dem perfekten Baum für uns machte. Wie jedes Jahr versuchte ich, vorab etwas über mein diesjähriges Weihnachtsgeschenk herauszufinden. Ganz Oben auf meiner Liste stand dieses Jahr ein Frisierkurs. Ich möchte nicht eitel klingen, aber ich liebe meine langen Haare. Oft verbringen meine beste Freundin, Marie, und ich Stunden damit, die neuesten Hochsteckfrisuren, Lockentrends und alle anderen Möglichkeiten für unsere Haare auszuprobieren. Meinen Eltern zu Liebe, habe ich mich nach dem Abitur doch für das Studium, und nicht für eine Friseurlehre entschieden. Irgendwie war dieses Jahr aber nichts, über das ausgewählte Geschenk, aus meinem Vater herauszubekommen. Als wir nach unserer langen, aber erfolgreichen Jagd wieder zu Hause ankamen und begannen, den Baum mit den blauen und silbernen Kugeln zu schmücken, kam auch in mir endlich die Weihnachtsstimmung auf. Draußen trat schon langsam die Dämmerung ein, die Flocken bedeckten den noch grünen Rasen, aus den Boxen ertönte bereits besinnliche Weihnachtsmusik und auch ich fing an, mich für das Abendessen und die Bescherung herzurichten. Meine Mum legte großen Wert darauf, dass wir uns alle, für das gemeinsame Fest, herausputzten. Sie gönnte uns daher einige Wochen davor, eine ausgiebige Shoppingtour mit Papas Kreditkarte. Ich hatte mir für dieses Jahr ein dunkelgrünes, mit meinen grünen Augen harmonierendes, Paillettenkleid ausgesucht. Meine Haare lockte ich mir und ließ sie an diesem Abend offen über die Schultern fallen. Gerade, als ich noch ein weiteres Kapitel meines Lieblingsbuches lesen wollte, riefen meine Eltern bereits, unten im Esszimmer, nach mir. Ich überprüfte noch kurz mein Handy und stellte fest, dass ich eine Nachricht von Marie erhalten hatte. Sie schrieb mir, dass gestern ein gut aussehender Kerl bei ihr in der Firma angefangen hatte. Er hieß Thomas Rogers, war 22 Jahre alt und der Sohn ihres Chefs. Sie war der festen Überzeugung, dass dieser Kerl etwas für mich sein könnte und setzte alles daran, ein Treffen zu arrangieren. Marie war mit ihren 23 Jahren bereits weit gekommen, und die Hauptimmobilienmarklerin in der Agentur eines Geschäftskontaktes meines Vaters. Und ja, Marie ist lesbisch. Daher kamen wir uns bei unseren Bekanntschaften zum Glück auch nie in die Quere. Ich wollte mehr über den Kerl erfahren, aber meine Eltern hassen nichts mehr, als warten zu müssen. Da am Weihnachtsabend, bis nach der Bescherung, immer striktes Handyverbot herrschte, verschob ich das Antworten auf Maries Nachricht auf später. Meine ältere Schwester, Juliette, und ihr Verlobter, Luke, kamen kurze Zeit später auch endlich an und wir setzten uns alle gemeinsam ins Esszimmer. Der gesamte Smalltalk drehte sich mal wieder um die bald anstehende Hochzeit der Beiden, und die Frage, wann ich endlich meinen ersten Freund nach Hause bringen würde. Mich nervte dieses Thema langsam und ich war froh, als das Essen endlich begann. Francesca hatte, wie auch die Jahre zuvor, wieder ein wundervolles Vier-Gänge-Weihnachtsmenü fürs uns gezaubert, und meiner Mutter das Gefühl gegeben, dass sie die Küche unter Kontrolle hatte. Wir alle wussten, dass meine Mum alles konnte, nur kochen eben nicht. Weihnachten war jedes Jahr der einzige Tag, an dem ich sie in der Küche antraf. Als die Gespräche wieder voll im Gange waren, wollte ich heimlich Marie zurückschreiben. Ich versuchte gerade unter dem Tisch eine Nachricht zu verfassen, als mein Vater zum wiederholten Male versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Juliette stupste mich an, und ich war so erschrocken, dass ich an der Tischdecke hängen blieb und mir das Glas Wein über mein neues Kleid schüttete. Alle Blicke meiner Familie waren in dem Moment auf mich gerichtet und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Aber das laute, herzliche Lachen meines Vaters, lenkte auch die anderen von meinem Missgeschick ab. Ich entschuldigte mich kurz, ging in mein Zimmer und suchte mir ein anderes Kleid aus meinem Schrank. Meine Wahl fiel auf ein rotes, bodenlanges Kleid, dass ich auch auf meiner Abiturabschlussfeier getragen hatte. Ich beeilte mich wieder nach unten zu kommen und anschließend begaben wir uns zur Bescherung in unser geräumiges Wohnzimmer. Wir stießen zuvor noch gemeinsam vor dem Kamin mit Glühwein an. Ich genoss diesen Moment jedes Jahr aufs neue. Alle strahlten, waren glücklich und eine kurze Zeit hielt der Stress des Alltags an. Das Geschenke auspacken war dafür immer recht kurzweilig, da es nur gut gewählte, hochwertige Geschenke gab. Meine Eltern legten immer großen Wert darauf, aber mir persönlich wären kleine, dafür persönlichere Geschenke lieber gewesen. Auch an diesem Weihnachtsabend überraschten meine Eltern mich wieder mit dem Gewünschten. Sie übertrafen sich dieses Jahr aber mit dem Ausmaß des Geschenkes! Ich bekam von ihnen eine zweiwöchige Reise nach Italien, in den nächsten Semesterferien, zu einem Kurs beim bekanntesten Frisör überhaupt. Und das absolute Highlight war, dass ich Marie mitnehmen durfte. Diese unglaubliche Überraschung musste ich ihr sofort mitteilen, und zog mich dafür kurze Zeit später in mein Zimmer zurück. Außerdem wollte ich jetzt unbedingt mehr über Thomas von ihr erfahren.



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