29. Dezember 1920 - Cecily

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Die Bibliothek war immer der stillste Ort im gesamten Anwesen. Nachdem Frühstück nutzte ich also genau diesen Raum. Ich wollte nachdenken. William hatte mir auf unserem Heimweg einiges zum Denken mitgegeben. Er hatte mir davon erzählt, wie man auf ihn eingeredet hatte, dass er Anna heiratet, und er sich immer wieder dagegen gewehrt hatte. Er hatte andere Frauen ausgeführt, hatte rebelliert, aber sein Vater hatte sich nicht umstimmen lassen. Diesem waren die Geschäfte wichtiger, als die Gefühle seines Sohnes.

Das er genau das Gleiche durchlebte, wie ich, hatte ich ihm nicht erzählt. Ich hatte diesen Sachverhalt tunlichst verschwiegen, und nun saß ich hier in der Bibliothek, dachte an William, an mich, an Anna, und all die anderen Menschen, die auf Grund besserer Geschäfte verheiratet wurden. Gestern Abend hatte ich Mutter darauf angesprochen, hatte sie gefragt, ob sie in Vater verliebt gewesen sei, und hatte die ehrlichste, unromantischste Geschichte zu hören bekommen, die es gab. Mutter war verliebt gewesen, in einen Jungen, aus der Dienerschaft ihrer Familie. Schon mit zwölf war sie in den damals 16jährigen verliebt gewesen, hatte ihn immer wieder beobachtet. Sie hatte sich hinter den Marmorsäulen, des großen Eingangsbereiches, versteckt, und ihm bei der Arbeit zugesehen. Ein paar Mal, da hatte sie ihm sogar geholfen, natürlich unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit. Vier Jahre später erfuhr sie dann, dass sie versprochen worden war. Ebenfalls bei ihrer Geburt. Sie hatte stundenlang geweint, und Elliot, ihr Schwarm, hatte sie getröstet. Ein Jahr darauf traf Großmutter ein, nahm Mutter unter ihre Fittiche, bereitete die Hochzeit vor, und kümmerte sich um sie, sodass sie sich, in diesen großen Anwesen Zuhause fühlen konnte. Als sie Vater das erste Mal sah, war sie enttäuscht gewesen, sie hatte sich einen jungen Mann gewünscht, doch Vater war schon zehn Jahre älter gewesen. Elliot hatte ein Jahr nach ihrer Hochzeit, dass Entlassungsschreiben eingereicht. Als ich Mutter danach fragte, wo er denn nun sei, hatte sie mir einen verklärten Blick geschenkt, hatte sogar noch mit den Schultern gezuckt, doch dann ein wissendes Lächeln aufgesetzt. Ich hatte mich nicht getraut noch eine weitere Frage zustellen, also blieb ich still, und ging wenige Augenblicke später zu Bett.

Vor den Scheiben sah ich, wie die Sonne durch die Wolken brach, und konnte ihre warmen Strahlen auf meiner Haut spüren. Einzelne Tropfen, des geschmolzenen Schnees, fielen vom Dach unseres Anwesens, am Bibliotheksfenster vorbei. Für den heutigen Tag hatte ich mir eine Lektüre herausgesucht, doch ich konnte nicht in diese fantastischen Welten abtauchen. Nicht heute. Nicht nach Gesprächen wie den gestrigen. Einem mit William, der einer schönen Küchenhilfe versprochen wurde, die er mochte, jedoch nicht liebte, und einem weiteren, in dem mir Mutter offenbart hatte, wie verliebt sie gewesen war, und dass es nicht Vater war, der ihr Herz erobert hatte. Es war Elliot gewesen, ein unbeschriebenes Blatt, in unserer Welt. Einer Welt mit arrangierten Ehen.

Ich dachte an Williams grüne Augen, die braunen, lockigen Haare, und die piekfeine Kleidung, die er getragen hatte. Er war weit über dem Stand einer Küchenhilfe, oder einer Zofe. Er hatte einen leichten Bart getragen, der ihn verwegen wirken ließ, obwohl er so wohlerzogen war, dass man es ihm nicht abgenommen hätte. Nicht in hundert Jahren. In dieser Sekunde waren die Gefühle aus mir herausgebrochen. Salzige Tropfen flossen meine Wangen hinab, tropften auf das teure Buch, auf meinem Schoß. Ich hatte mir in die Hand gebissen, um das kehlige Schluchzen, verstummen zu lassen, konnte das Ziehen in meiner Brust kaum noch ertragen, und hätte am liebsten geschrien. Einen Arm fest um meinen Oberkörper geschlungen, wiegte ich mich, und weinte um mich selbst, um William, um meine Mutter, und um jeden, der jemals jemandem versprochen worden war.

Ich schwärmte insgeheim für diesen William, der seine Anna nicht heiraten wollte, obwohl er sie sehr mochte. Ich wiederum konnte nur hoffen, ich würde meinen künftigen Ehemann mögen. Vielleicht würden wir eines Tages ebenso befreundet sein, wie Anna und William. Oder vielleicht hätte ich noch viel mehr Glück, und könnte Robert wirklich lieben. Nicht so wie Mutter, Vater liebte. Sie hatten sich arrangiert, ebenso wie ihre Ehe es wurde. Mutter respektierte Vater, er wiederum, da war ich mir sicher, liebte sie sehr.

Der Ball am Silvesterabend würde all diese Fragen klären. Ob ich meinen Ehemann attraktiv finden würde, ob ich ihn mögen würde, und, ob ich ihn eventuell sogar lieben würde.



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