Kapitel 19

614 47 2
                                    

POV Tim
Bielefeld, Juni 2004
Marcel und ich waren schon lange gut befreundet gewesen. Wir kannten uns aus der Schule, hatten ähnliche Interessen und ich konnte immer auf ihn zählen. Doch als ich dann an dem einem Tag wie ein begossener Pudel vor seiner Haustür stand, war es mir plötzlich unangenehm, nach seiner Hilfe zu fragen. Vielleicht wollte er ja auch gar nicht mit mir leben? Als sich die Tür öffnete und er vor mir stand, konnte ich an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass er genau wusste, was passiert war. Natürlich hatte ich ihm keinerlei Informationen über meinen Arsch von Stiefvater enthalten und er hatte mir mehrmals geraten, einfach wegzuziehen, vor allem nachdem ich achtzehn geworden war und somit ausziehen konnte.

„So schlimm?"
„Der gleiche Scheiss wie immer, nur noch extremer."
„Hat er dich geschlagen?"
„Nee, diesmal nicht."
„Hmm. Gut. Dann komm rein."
„Sicher? Ich will dir nicht..."
„Na klar, Brudi! Dich nehm ich doch jederzeit gerne auf." Er lächelte mich freundlich an und ich ihn dankbar.

Als ich in seine Wohnung eintrat, war mir bewusst, weshalb ich mich hier wohl fühlen würde: es war eine typische Männer-Wohnung: überall lagen leere Bierflaschen, eine verdreckte Bong auf dem Küchentisch, ein paar schimmlige Pizzaboxen, dreckige Wäsche und der Boden war sicherlich das letzte Mal in 1994 gereinigt worden.
„Mach's dir gemütlich. Äh...mein Mitbewohner hat mich heute verlassen. Also, er ist heute eh ausgezogen, von dem her..."
„Echt? Was für ein Zufall."
„Ja...Hmmm...also...da gibt es ja noch so Sachen...also...Miete und so."
„Jaja, klar, kein Problem."
„Schaffst du das überhaupt, finanziell?"
„Ja, krieg ich schon hin", antwortete ich leicht genervt.
„Erstmal einen buffen?", meinte Marcel in versöhnlichem Ton.
„Jo."

POV Lukas
Neuenwalde, Juni 2004
„Da isser ja!", rief Nicholas, als er den Penner entdeckte. Ich schluckte heftig und mein Herz begann zu rasen.
„So, Luki, jetzt mach schon!" Ich sah mich panisch um. Es war wirklich keiner da. Außerdem konnte ich relativ schnell laufen, sollte uns jemand sehen, beziehungsweise sollte der Penner sauer werden (was er sicherlich dann war). Ich machte mich bereit, zielte und schoss dann auf den Typen, der sofort hochschreckte und mit dem Kopf gegen den aufgestellten Regenschirm knallte. Der Stapel Zeitungen, mit denen er sich zugedeckt hatte, fiel zu Boden. Nicholas lachte ohne Ende und ich erzwang mir ein Grinsen. Doch eigentlich ging es mir Scheisse. Wieso machte ich sowas? Ich sah mich nervös um und zog dann an seinem Ärmel.
„Komm, wir sollten weg." Er sah mich seltsam an und machte erstmal gar nichts.
„Nicholas, komm." Mein Freund zuckte die Schultern und folgte mir. Den ganzen Abend fühlte ich mich schlecht, was natürlich auch meinen Eltern auffiel. Doch als sie mich darauf ansprachen, zuckte ich nur die Schultern, in typischer Teenagermanier, und schaufelte mein Essen in mich rein. Ich wollte diesen Tag eigentlich vergessen, was mir jedoch nie gelingen würde.


Berlin, jetzt (September 2014)
Morgen hab' ich Geburtstag. Und mein Freund, die Liebe meines Lebens, wird nicht da sein können. Etwas traurig setzte ich mich auf mein Sofa, öffnete mein erstes Bier und schaltete den Fernseher ein. Nichts Interessantes. Dschungelcamp, Berlin Tag und Nacht, und zu guter Letzt mein absolut verhasstes Germany's Next Topmodel. Wie ätzend. Das deutsche Fernsehprogramm sollte mal einen Preis für die schlechteste Unterhaltung Europas gewinnen. Seufzend schaltete ich den Fernseher wieder aus und sah mich in meiner Wohnung um. Post-Tour-Depression nennt man das, was ich gerade fühlte. Ich streckte mich und stand auf, um zum Fenster zu gehen. Friedrichshain ist irgendwie so ein Teil Berlins, der so richtig Berlin ist. Graffiti, Dönerstände, Punks, Bars, Drogen, vegane Läden, Indielabels, alles kreucht und fleucht hier. Timi würde so gut hierher passen.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Leicht verwirrt sah ich auf mein Handy. Ich saß seit drei Stunden am Fenster und hatte das Geschehen beobachtet, während ich es noch nicht mal zehn Minuten vorm Fernseher ausgehalten hatte. Es war schon erstaunlich, was für ein seltsamer Mensch ich war. Kopfschüttelnd stand ich auf und ging zur Sprechanlage.
„Ja?"
„Süße Maus, mach die Tür auf." Tim? Tim! Total aufgeregt – als wär ich frisch verliebt – drückte ich auf den Türöffner (nicht ohne vor Freude aufzuquieken) und versuchte mir gleichzeitig die Haare zu richten. Auch wenn Tim mich schon in schlechten (sehr schlechten) Zuständen gesehen hatte, wollte ich zumindest heute ein wenig präsentabler aussehen. Ein paar Minuten stand er dann schon vor mir und ich hätte beinahe vor Freude geheult. Wochenlang hatten wir uns nicht gesehen. Ich hasste das leere Bett so sehr, dass ich manche Nächte auf dem Sofa verbracht hatte. Zumindest konnte ich dieses wegen meiner Körperlänge ausfüllen.

„Ich hab' dich so vermisst."
„Ich dich auch." Timi kam auf mich zu, nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und küsste mich lange und innig. Gott, ich liebe diesen Mann!
„Wir haben zwar noch ein paar Stunden, aber alles Gute zum Geburtstag!"
„Danke." Ich lehnte meine Stirn an Tims und wir sahen uns lächelnd lange in die Augen, während er mir über die Wange strich. In 'nem Disneyfilm würden jetzt Vögel ein Herz über uns formen.


Gib mir die HandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt