Kapitel 92

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POV Lukas
Berlin, drei Wochen nach dem Zusammenzug
Das Leben mit Tim war eigentlich nicht viel anders, als die Zeiten, die wir auf Tour verbrachten: er kiffte mehrmals täglich – ab und zu Bong, manchmal Joints, manchmal eins nach dem anderen – rauchte eine Kippe nach der anderen und auch die Flasche Jack Daniel's wurde öfters geöffnet als mir lieb war. Doch ich wollte nichts sagen, ich konnte nichts sagen. Ich kannte ihn schon so lange, kannte ihn ja schon seit so vielen Jahren – weshalb sollte ich dann jetzt plötzlich ein Problem mit dem Ganzen haben? Ich hatte wirklich keinerlei Gründe, mich zu beschweren. Doch je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto mehr Angst hatte ich, dass er sich kaputtmachte, dass er mehr Dinge nehmen würde, als zuvor. Ich lebte eigentlich in konstanter Angst, dass die Drogen – und dazu gehörte auch Alkohol und Kippen – sein Leben mehr einnehmen würden, als er ihnen zutraute. Vielleicht lag es auch daran, dass ich selber nicht viel hatte, was mich ablenken würde, was mich auf andere Gedanken bringen, die sich nicht gerade um den Drogenkonsum meines Freundes drehten. Ich versuchte immer wieder an neuen Bühnenkonzepten und gelegentlich sogar an neuen Songs zu arbeiten, doch ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Meine Mutter würden sagen, dass ich überarbeitet sei, dass mein Gehirn einfach nicht arbeiten konnte und dass, obwohl sie Tim sehr gerne mochte, seine Anwesenheit, seine konstante Anwesenheit mir nicht guttat.

Also entschied ich mich, ein paar Tage bei meinen Eltern zu verbringen, einfach einmal weg von Berlin, von dem Lärm und letztendlich auch einfach mal weg von meiner Beziehung zu kommen. Ich wollte anfangs jedoch, dass Tim mitkommen würde, da ich Angst hatte, dass ihm etwas passieren würde, während ich weg war. Ich hatte eigentlich einmal wieder ständig Angst, dass Tim etwas passieren würde. Er kam nicht selten viel später als ich nachhause, feierte nicht nur Freitag und Samstag nachts, wie der Rest der Welt, sondern kam sogar an Sonntagen und stinknormalen Mittwochen gegen vier Uhr früh nachhause und kotzte sich dann die Seele aus dem Leib. Ich würde dann hinter ihm stehen, ihm den Rücken streicheln, ihm Wasser bringen und ihm vorsichtig klarmachen, dass er zu alt für so ein Leben war, dass sein Körper sich eh nie gut mit Massen von Alkohol verstanden hatte und dass er sich lieber mit etwas Anderem abfinden sollte. Den letzten Satz bereute ich sofort, da ich gerade mal zwei Tage später Tim völlig high auf der Couch fand, die Packung Pilze vor ihm war fast leer und er starrte grinsend seine Hände an.

„Was machst du denn für Sachen?", fragte ich ihn sanft, als ich auf ihn zukam. Mein Freund antwortete nicht. Ich seufzte laut auf, setzte meine Tasche auf dem Boden ab und setzte mich neben ihn. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte – ich kannte ihn doch, ich kannte ihn doch schon seit so vielen Jahren, doch je mehr Zeit ich so direkt mit ihm verbrachte, desto mehr Sorgen machte ich mir und desto weniger Geduld hatte ich.
„Timi..."
„Ich hätte nie gedacht, dass meine Hände so etwas können", unterbrach er mich, immer noch fixiert auf seine Hände.
„Ja, die...die können so etwas." Ich wusste selber nicht, wovon er redete, und konnte natürlich auch nicht sagen, was er denn sah, das ich nicht sehen konnte. Doch über die Jahre hatte ich gelernt, einfach auf ihn einzugehen, ihm zuzustimmen und so zu tun, als wüsste ich genau, was da gerade in seinem Kopf, beziehungsweise vor seinen Augen vor sich ging.
„Aber schau mal Lukas, die sehen so viel größer aus. Waren die immer schon so groß?" Ich starrte ihn kurz verwirrt an, und versuchte nicht sofort auszuflippen.
„Nein, also...Tim, hör mal. Ich mache mir Sorgen und..."
„Krass, echt krass." Erschöpft beobachtete ich ihn noch ein paar Sekunden lang, bis ich genervt aufstand.
„Hast du Hunger?"
„Hmmm?"
„Hunger. Willst du etwas zu essen haben?"
„Ja, warum nicht? Echt krass, was die machen können." Ich rollte die Augen und brachte meine Tasche ins Schlafzimmer, welches mal wieder wüst aussah: das Bett war nicht gemacht, Tims Klamotten lagen überall herum und Heisenberg lag auf meinem Kopfkissen, welches eigentlich für ihn tabu war – einzig und allein mein Kissen, alles andere war ja ok.

„Heisenberg! Aus! Runter!", rief ich dem Hund zu, der erschrocken aufsprang, das Bett verließ und dann beleidigt an mir vorbei und durch die Tür stolzierte. Ich schloss kurz genervt die Augen und massierte mir die Schläfen, bevor ich das Bett abzog, alles in die Wäsche warf und es wieder neu bezog. Dann stand ich unschlüssig vor dem Bett und war regelrecht ratlos, was ich denn jetzt machen sollte. Eigentlich hatte ich heute nichts geplant, unsere Wohnung war schon fertig eingerichtet und gestrichen, also hatte ich auch nichts in dem Sinne zu tun. Vielleicht sollte ich Basti anrufen... Sobald dieser Gedanke mich erreichte, verwarf ich ihn auch wieder. Wie sollte mir Basti denn helfen? Er würde doch eher applaudieren, wenn er von Tims Drogengelage hörte. Frustriert setzte ich mich auf den Boden, mit dem Rücken zum Bett und starrte auf den Boden.
„Lukas?" Ich hob meinen Kopf und sah auf einen ziemlich fertig aussehenden Tim.
„Ja?"
„Es...tut mir leid. Dass ich...dass ich es schon wieder getan habe."
„Ja, ist doch kein...Also...Ich kenn dich doch. Kam ja jetzt nicht direkt überraschend."
„Schon, aber..." Er setzte neben mich und fuhr sich durch die verschwitzten Haare.
„Ich will mich verändern", sagte er nach einer längeren Pause.
„Was?" Ich dachte, ich hätte mich verhört und starrte ihn ungläubig an.
„Ich will mich verändern", wiederholte er und sah mich von unten an.
„Und was willst du verändern?"
„Ich...bin jetzt zweiunddreißig Jahre alt. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schau, sehe ich mehr Falten als am Tag zuvor. Je mehr ich rauche, desto mehr weiß ich, dass ein Teil meines Körpers stirbt. Und umso mehr geht in mir kaputt, je mehr Drogen ich nehme, vor allem mit je mehr Kokain und Ecstacy ich mich zudröhne. Ich...kann das nicht mehr. Also, ich könnte schon...du weißt schon, immer weiter machen, aber ich sehe doch, wie dich das kaputtmacht, wie...mich das kaputtmacht." Tim schob seine Brille den Nasenrücken nach oben und schob – ob unbewusst oder nicht, wusste ich nicht – seine Hand auf dem Boden näher an meinen Körper.

POV Basti
„Was?", fragte ich unhöflich in den Hörer, innerlich betend, dass es nicht gerade meine Mutter war, die mich zu dieser gottlosen Uhrzeit störte.
„Basti, ich bins", hörte ich Lukas leise Stimme.
„Ja und?"
„Ich...ich glaube, wir müssen uns um Tim kümmern."
„Inwiefern?"
„Ja, halt...er macht es immer wieder. Jeden Tag. Jeden Tag macht er seinen Körper kaputt damit."
„Womit?", fragte ich, obwohl ich wusste, was Lukas meinte. Tim war ja immer schon sehr anfällig für Drogen gewesen, und dennoch überraschte es mich immer wieder, wenn er es von einem Tag auf den anderen übertrieb, wenn er mehr einschmiss, als sein dünner Körper ertragen konnte und wenn er Lukas so wehtat, ohne es mit Absicht zu tun.
„Es...es ist nicht nur das", meinte Lukas und ich versuchte mich von meinen Gedanken zu rütteln. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was er davor gesagt hatte, doch ich konnte es mir schon denken.

„Er...es ist nicht so einfach mit ihm zu leben."
„Ja ach, nee", meinte ich sarkastisch und zündete mir eine Zigarette an.
„Ja, weil...er ist ja unordentlich. Und das wusste ich ja schon. Aber seine Unordentlichkeit ist fast schon...krankhaft. Er...lässt alles überall liegen, versifft in seinem eigenen Dreck und merkt es nicht. Ich mache mir echt Sorgen, vor allem, weil...ich bin doch der Jüngere! Ich kann ihm doch nicht ständig hinterherlaufen, und..."
„Lukas, dein Freund ist ein Junkie. Er war immer schon ein Junkie. Ihr kennt euch seit fünf Jahren. Ich kenne ihn seit acht Jahren, Marcel kennt ihn seit dem Kindergarten. Tim war immer schon anfällig für Probleme, hat sich noch nie gut um sich selber gekümmert. Er war in zahlreichen Therapien – als Kind, als Teenager und als Erwachsener – und es hat nichts gebracht. Was er braucht ist dich. Du musst für ihn da sein, ihn halten, ihn nicht verurteilen, ihm klarmachen, dass du immer für ihn da sein wirst. Und dann holst du dir einen Therapeuten."
„Was?"
„Ja, jemanden Professionellen, der euch helfen kann. Denn niemand will, dass eure Beziehung kaputt geht."
„Basti, ich...Tim wird doch nie und nimmer mit einem Therapeuten reden."
„Der Therapeut ist ja auch für dich."
„Was?", fragte er nochmal ungläubig. Ich seufzte und drückte meine Zigarette aus.
„Ich schick dir die Nummer von jemand Gutem. Kannst es auch von deinen Steuern abziehen, wenn du willst. Und, Lukas?"
„Ja?"
„Mach dir nicht immer so viele Sorgen. Wenn's sein muss, kannst du Tim auch einfach mal wegschicken. Dem macht das nicht so viel aus."
„Ok...Ok, danke, Onkel Basti." Lukas lachte laut auf und auch meine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben.
„Gut, jetzt lass mich in Ruhe." Daraufhin legte ich auf und starrte kurz auf den Tisch vor mir. Tim sollte doch machen, was er wollte. Mich nervte es zwar, dass seine Drogeneskapaden Lukas so verletzten, doch andererseits war es mir auch egal. Seufzend öffnete ich das kleine Tütchen vor mir, legte mir drei Lines, welche ich in kürzester Zeit zog und lehnte mich dann zurück.

Diese Gespräche waren echt anstrengend.

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