Kapitel 30

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POV Lukas
Berlin, jetzt
Ich war noch nie ein sehr emotionaler oder melancholischer Mensch gewesen. Ich war auch nicht immer fröhlich, jedoch hatte ich es immer geschafft, meine Gefühle für mich alleine zu behalten, immer ruhig zu bleiben, vor allem, wenn es mir richtig schlecht ging. Als ich Timi damals kennengelernt hatte, war es, als würde für mich eine neue Welt geöffnet werden. Ich hatte die Beziehung mit Julian „auslaufen" lassen, weil ich erstens Angst hatte, dass er sich etwas antun würde (Grund für diese Angst gab es keinen, außer seinen dramatischen Ausbrüchen), und zweitens, weil ich dachte, dass ich nicht wieder jemanden finden würde, der in eine monogame Beziehung mit mir gehen wollte. Ich hatte mehrere Freunde, die sogenannte „offene" Beziehungen führten und die Hälfte von ihnen war total glücklich, die andere überhaupt nicht. Eine Bekannte von mir – Jette – war seit Jahren in einer offenen Beziehung, in welcher beide Partner von Anfang an polyamourös waren. Sie meinte, dass in Beziehungen, in welchen man anfangs monogam war und dann plötzlich nicht mehr, dass diese Beziehungen dann in die Brüche gehen würden. Man musste es von Anfang so angehen. Sie erzählte mir immer diese Geschichten, von den vielen Männern, mit denen sie schlief und dann später zu ihrem Freund nachhause kam und ihm davon erzählte. Ich konnte immer nur den Kopf schütteln. Ich war nicht der Typ für Seitensprünge oder unkonventionelle Beziehungen. Tim war da schon etwas anders. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mich jemals betrogen hatte, jedoch wusste ich, dass er bei seinen früheren Beziehungen nicht ganz treu war.

POV Tim
Bielefeld, Oktober 2008
Ich hatte es wieder getan. Ich hatte wieder einmal meinen Freund mit einem anderen Mann betrogen. Zum dritten Mal nun. Daniel und ich waren noch nicht mal lange zusammen gewesen – vielleicht gerade mal drei Monate – und ich fing wieder an, mit anderen Männern zu flirten, sie zu küssen, mit ihnen zu schlafen. Ich konnte es mir nicht erklären. Lag es daran, dass wir kaum Sex hatten? Nein, es sei denn man empfindet fünfmal die Woche als wenig Sex. Liebte ich ihn vielleicht gar nicht? Ich wusste doch noch nicht mal, was Liebe war, also konnte das auch nicht der Grund sein. Fand ich ihn nicht gutaussehend genug? Auf gar keinen Fall – Daniel war sogar ein sehr gutaussehender Mann. Ich hatte eigentlich ziemlich Glück mit ihm. Doch irgendetwas zog mich raus, zog mich weg von ihm. Und es machte mir noch nicht mal so viel aus, wenn ich nachts (oder manchmal auch tagsüber) mit irgendeinem Typen schlief und dann ein paar Stunden später nachhause kam, wo Daniel auf mich wartete, wo ich ihn küsste, auch mit ihm schlief und so tat, als wäre alles ok. Jedes Mal, wenn ich meinen Freund betrog, erzählte ich Marcel davon, der anfangs noch versuchte, mir das alles auszureden. Er versuchte, mich zur Vernunft zu bringen und dann tat ich es wieder. Am Ende rollte er nur die Augen, schlug mir vielleicht auf den Hinterkopf oder verließ einfach kopfschüttelnd den Raum, wenn ich ihm von meiner nächtlichen Eroberung erzählte.

Bielefeld, jetzt
„Hi Mama, wie geht's dir?"
„Gut, mein Schatz. Herbert hat einen neuen Job und..."
„Jaja, schon gut. Der interessiert mich nicht. Ich will dessen Namen nicht hören." Meine Mutter seufzte am anderen Ende der Leitung.
„Wie geht es denn deinem Lukas? Arbeit er immer noch so viel?"
„Naja, wir bringen ja dieses Jahr unser Album raus und dann Tour und dann sehen wir mal. Ich glaub, er wollte sicherlich auch an etwas arbeiten, aber erst etwas später. Nächstes Jahr vielleicht? Aber du kennst ihn ja – natürlich werkelt er immer an irgendwelchen geheimen Sachen."
„Ach, das klingt doch gut. Geht's euch gut? Zusammen?"
„Ja, definitiv. Hmm...Mama?"
„Ja, Tim?"
„Er will, dass ich nach Berlin ziehe."
„Oh. Berlin, hmmm? Das wäre eine große Veränderung für dich. Und was willst du?"
„Ich weiß es nicht."
„Weißt du, ihr habt ja noch Zeit. Du musst ihn ja nicht gleich heiraten. Verbringt erst mal viel Zeit miteinander – das macht ihr ja auch oft auf Tour, nicht wahr? – und dann könnt ihr ja weitersehen, ob das gut läuft, wenn ihr so aufeinandersitzt."
„Ja, aber Tour ist ja was Anderes als zusammen zu leben, da ist ein ganz anderes Klima, und die Anderen sind ja auch immer da. Außerdem legt er viel mehr Wert auf Reinlichkeit als ich und..."
„Dann musst du dich halt daran gewöhnen."
„Ja, aber..."
„Tim, du bist dreißig. Vielleicht solltest du dir mal ein Beispiel an Lukas nehmen. So wie der sein Leben meistert..."
„Oh, Mann, Mama!", stöhnte ich gereizt auf. Sie verstummte sofort. Na toll, jetzt ist sie auch noch eingeschnappt. Ich stieß etwas Luft aus und versuchte, mich ein wenig zu beruhigen.

„Ich will ihn nicht verlieren."
„Das versteh ich schon, aber in einer Beziehung zu sein heißt, Kompromisse zu schließen. Und auch wenn es dir schwer fehlt, musst du manchmal über deinen eigenen Schatten springen, um etwas zu erreichen." Sie hatte ja recht. Wir redeten noch über ein paar belanglose Dinge, ehe ich auflegte. Lukas wollte mich in drei Wochen besuchen kommen, damit wir am Album arbeiten konnten und „chillen". Außerdem wollten wir besprechen, wie wir das dann auf Tour machen würden, nachdem das Album rauskam, mit den anderen Jungs, wie wir ein wenig Zeit alleine verbringen konnten und wie wir das mit Sex machen wollten, da wir uns garantiert keine allzu großen Hotelzimmer leisten konnten (letzteres besprach ich natürlich nicht mit meiner Mutter).

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