Kapitel 35

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POV Lukas
Bielefeld, jetzt
Es schien Tim etwas besser zu gehen, nachdem ich ihn massiert hatte, und irgendwann lag er schlafend in meinen Armen, das linke Bein über dem rechten überschlagen, was seiner Meinung nach, am gemütlichsten war, beziehungsweise, was seinen Rücken am wenigsten strapazierte. Ich strich Timi über den Kopf, wieder und wieder, und wurde auf einmal wieder wütend, dass er sich das ständig antat, dass er mir das alles immer wieder antat, dass er sich, meiner Meinung nach, kindisch verhielt, wenn er meinte, sich abschießen zu müssen. Er merkte natürlich nichts von der unangenehmen Situation, in der ich gerade war, und schlief seelenruhig weiter, während ich in Gedanken das Gespräch, das ich mit ihm geplant hatte, aufbaute. Doch ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, wie ich das alles überhaupt anfangen sollte. Ich wollte nicht vorwurfsvoll wirken, aber ich wollte auch nicht, dass er mich mit seinen Argumenten überrannte. Ich wollte nicht, dass ich zickig rüberkam, und ich wollte nicht, dass er wütend wurde. Tim war mein erster Freund, der Drogen nahm – und nicht wenige – und eigentlich sollte ich das alles doch gewöhnt sein (ich war immerhin Mitglied von Trailerpark), und doch machte es mir Angst. Ich hatte Angst, dass unser Gespräch eine Wendung nehmen würde, auf die weder Tim noch ich vorbereitet waren. Eine Wendung, mit der wir beide nicht umgehen konnten, eine Eskalation, die das relativ gute Klima zwischen uns beiden komplett zerstören würde. Warum macht er dann das immer und immer wieder? Er wusste doch, wie sehr er mir wehtat, wie sehr er sich selber wehtat. Klar wusste ich, worauf ich mich eingelassen hatte, als ich Tim näher kennenlernte, als ich ihn ein paar Mal auf Speed oder sonstigem gesehen hatte. Und trotzdem tat es mir immer wieder weh.

POV Tim
Als ich wieder gegen 20:00 Uhr aufwachte, sah ich zu Lukas hoch, der konzentriert auf die andere Seite des Schlafzimmers starrte. Nur die kleine Lampe auf dem Nachtschrank war an und gab dem ganzen eine leicht unheimliche Atmosphäre. Ich öffnete meinen Mund, wollte gerade etwas sagen, als ich seinen verdunkelten Blick und verkrampften Unterkiefer bemerkte. Er war ganz schön wütend. Auch wenn er mich immer noch streichelte, schien ihn das alles, was er heute mitbekommen hatte, ziemlich mitzunehmen und vor allem zu verärgern. Ich versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen – nicht nur, wegen meiner Rückenschmerzen, sondern auch, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Würde er ein wütender Lukas sein? Ein schreiender Lukas? Ein trauriger? Ein ruhiger, aber unendlich zorniger? Wir hatten uns noch nie so richtig gezofft, und ich wollte gar nicht wissen, wie das aussehen würde, wenn er mich anschreien würde, vielleicht sogar anpacken würde. Ich hatte Angst. Angst, dass es schlecht ausgehen würde, auch wenn ich Lukas nicht für einen Typen hielt, der nach ein paar Dramen Schluss machen würde. Wir liebten uns doch, oder?

Bielefeld, 2003

„Ich mach mir einfach nur Sorgen, Timi." Meine Mutter hielt mein Gesicht in ihren Händen und sah mir direkt in die Augen, bevor sie mir mit einem nassen Handtuch die Kotze vom Mund wischte.
„Musst du nicht", nuschelte ich, woraufhin sich Tränen in ihren Augen bildeten. Wir saßen (oder knieten) gemeinsam vor der Toilette, auf dem kalten Fliesenboden, und ich hatte mich mittlerweile zum vierten Mal erbrochen. Dass überhaupt noch etwas rauskam bei meiner geringen Nahrungsaufnahme, war ein Wunder. Ich war neunzehn, eigentlich sollte ich in einer WG leben, mich dort abschießen, und dann sonntags zu Kaffee und Kuchen meine Familie besuchen. Doch dem war natürlich nicht so. Ich kam immer wieder zurück, „nachhause", weil ich wusste, dass meine Mutter sich um mich kümmern würde, auch wenn ihr Ehemann sie später damit aufziehen würde, einem erwachsenen Mann zu bemuttern (bei ihr hatte er jedoch noch nie Hand angelegt, nur immer bei mir).
„Tim, sei bitte vorsichtiger. Du weißt doch nicht, was die da alles reinmischen."
„Mein Dealer kennt sich aus." Sie schnaubte auf.
„Mit allem? Es kommt nicht selten vor, dass die da was Anderes reintun, etwas, was noch viel schlimmere Effekte auf dich hat, etwas, wodurch du sofort in die Abhängigkeit gerätst."

Ich wusste, dass sie recht hatte, doch alles, was ich in dem Moment machen wollte, war mich hinlegen, Ruhe haben, nichts tun. Ich würde gerne jemanden in der Familie die Schuld darangeben, dass ich so anfällig für Drogen war. Doch seitdem mein Vater uns verlassen hatte (und das war vor vielen Jahren) gab es nur zwei Verdächtige: meine Mutter und meinen Stiefvater. Keiner von beiden hatte etwas mit Drogen am Hut. Ich bezweifle, dass meine Mutter jemals mehr als gekifft hatte. Zumindest wusste ich, dass sie bevor sie Herbert kennengerlernt hatte, mehr Alkohol getrunken hatte. Wie der Arsch sie so glücklich machte, war mir ein Rätsel.
„Komm, ich bring dich ins Bett." Wenig später fand ich mich in meinem Bett, ich hatte mehrere Decken über meinen Körper gezogen, da mir wahnsinnig kalt war. Meine Mutter stellte mir ein Glas Wasser und ein paar Aspirin-Tabletten auf den Nachtschrank, gab mir einen Kuss auf die Stirn und verließ dann das Zimmer um mich alleine mit meinen Gedanken, die nicht gerade positiv waren, zu lassen.

Gib mir die HandWhere stories live. Discover now