Kapitel 51

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POV Lukas

Berlin, jetzt
Im Bad angekommen versuchte ich mich erstmal zu beruhigen – was war das denn gerade gewesen? Was war denn in mich gefahren? Ich fand mich wieder auf dem Badewannenrand sitzend – so wie vor Kurzem, als Basti, Matthias und Sudden bei mir gewesen waren – und verbarg meinen Kopf in den Händen. Jetzt ist es also passiert: du hast angefangen, beim Sex an jemand anderen zu denken. Schande über dein Haupt. Du benimmst dich ja fast so, als wäre dir einmal etwas Schlimmes passiert, und du deshalb Probleme hast, mit Anderen Körperkontakt zu haben, obwohl du eigentlich nur egoistisch bist, dachte ich, während ich mir Handtuch schnappte und mir dieses umband. Der Wannenrand war echt viel zu kalt, um nackt darauf zu sitzen. Während ich versuchte, mich selber zu verstehen, hörte ich, wie Tim zaghaft an die Tür klopfte.
„Schatz, ist alles ok?"
„J-Ja, klar."
„Kann ich reinkommen?" Ohne eine Antwort abzuwarten trat er schon ein. Er war immer noch nackt und hockte sich dann vor mich, mich jedoch nicht berührend. Es war erstaunlich, wie gut Tim mit solchen Situationen umgehen konnte. Vermutlich weil er selber schon viel Negatives in seinem Leben erlebt hatte. Oder er besaß eine phänomenal gute Menschenkenntnis, von der ich bis jetzt noch nicht viel sehen durfte.

„Was ist denn gerade passiert, hmm?" Er strich mir kurz über die Wange.
„Weiß ich nicht. Ich-ich...es tut mir leid. Ich wollte ja..."
„Shhh, ist schon ok. Normalerweise bin ich doch derjenige, der total abgefuckt ist und dann Berührungsängste bekommt. An was...an was hast du denn gedacht, bevor du...weggesprungen bist?" An einen anderen Mann. Ich sah auf den Boden und spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Normalerweise bist du doch nicht so emotional – was ist denn auf einmal los mit dir? Außerdem solltest nicht du, sondern Tim heulen, wenn er wüsste, was eigentlich in deinem Kopf vorgeht. Ich begann, meine Hände zu kneten und vermied jeglichen Blickkontakt mit meinem Freund, der mir eigentlich nur helfen wollte, der sein Bestes versuchte, damit ich mich besser fühlte, damit ich mich wohler fühlen würde. Die nächsten Minuten verbrachten wir schweigend. Ich wischte mir immer wieder über die Augen und Tim blieb vor mir hocken, er hob seine Hände, um mich zu streicheln, ließ sie jedoch wieder sinken.
„Soll ich gehen?"
„Nein."
„Soll ich dich umarmen?"
„Ja, bitte." Er lächelte mich an und stand dann auf, mich mit ihm und in eine warme, lange Umarmung ziehend. Und es tat gut. Zumindest eine kurze Zeit lang.
„Willst du ein Bad nehmen? Vielleicht geht's dir dann besser." Ich nickte, setzte mich auf den Klodeckel und beobachtete, wie mein Freund ein Bad einließ. Mein Blick folgte jeder seiner Bewegungen: wie er mit der rechten Hand den Hahn aufdrehte, während er sich mit der Linken am Wannenrand abstützte. Die Muskeln in seiner linken Wade, die noch mehr hervortraten, je mehr er sich auf sein linkes Bein lehnte. Das Tattoo mit den Trailerpark-Figuren, das ich immer schon ganz süß fand. Mein Blick wanderte immer weiter, registrierte kleine Details, die mir vielleicht noch nie so direkt aufgefallen waren, wie zum Beispiel die typische Männerbehaarung, die Tims Beine entlangging; sein muskulöser Rücken, sein Undercut, sein Bart.

„Ok, sollte nicht lange dauern, bis die Wanne voll ist."
„Hmmm?" Tim lächelte mich an und wiederholte seinen Satz. Ich nickte nur und versuchte mich zusammenzureißen. Wieso heulst du eigentlich wegen solchen banalen Dingen? Es war ja nichts passiert, was meinst du denn, was Tim von dir denkt, wenn du ständig heulst?

„Lukas."
„Was?"
„Alles ok?"
„Ja."
„Sah aber gerade nicht so aus."
„Doch, doch, ich...ähm...bin nur müde." Tim machte eine Handbewegung, die zeigte, dass er mir nicht glaube und ich nicht labern solle, ehe er mir einen Kuss auf den Kopf drückte.
„Tut mir leid."
„Was tut dir leid?"
„Dass ich das vorhin unterbrochen hatte."
„Ist doch ok."
„Nee, weil..." Ich holte tief Luft und sprach dann das aus, was ich eigentlich nicht sagen wollte, weil ich ihn nicht verletzen wollte.
„Wir haben uns doch schon ewig lang nicht mehr gesehen gehabt und ich...ich wollte ja mit dir schlafen, natürlich wollte ich das, nur...es ist nur...ich weiß auch nicht, was momentan mit mir los ist. Irgendwie sind da so viele Gedanken, so viel...Stress und...und ich will nicht, dass das unsere Beziehung kaputtmacht, dass ich unsere Beziehung kaputtmache. Aber manchmal...manchmal fühl ich mich halt komisch. So wie vorhin. Also, nicht komisch aber halt...ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich liebe dich natürlich, nach wie vor, aber ich brauch auch...also...ich denke halt manchmal daran, wie es wäre, wenn...wenn wir vielleicht mal...vielleicht mal mit jemand anderen schlafen würden." Jetzt war es raus. Alles rausgekotzt, vor der Liebe meines Lebens. Der Mann, den ich so liebe. Der, der mich gerade entsetzt anstarrt.

POV Tim
Ich konnte nicht glauben, was Lukas mir da gerade gesagt hatte. Geschockt starrte ich ihn an, starrte in sein schuldbewusstes Gesicht und fühlte mich elendig. Wir liebten uns doch. Ich spürte, wie sich nun auch bei mir Tränen bemerkbar machten, während ich das, was Lukas mir gerade gebeichtet hatte, registrierte und durcharbeitete. Ich versuchte die Puzzleteile zusammenzubauen, versuchte, dem Ganzen einen Sinn zu geben, und doch verstand ich ihn nicht. Ich verstand nicht, wie er mir so etwas sagen konnte. Verstand nicht, dass er solche Gefühle haben konnte. Zumindest war er ehrlich. Manchmal war eine kleine Lüge jedoch besser als die Wahrheit.

„Was?", fragte ich ihn ungläubig.
„Ich würde gerne mit jemand anderen schlafen. Nur...nur einmal, nicht...nicht für längere Zeit. Und..."
„Und wie stellst du dir das vor?", fragte ich eingeschnappt.
„Ähh...ja, nur halt...einmal, weißt du? Wir...wir wären ja noch zusammen aber...vielleicht, wenn...wenn wir nur einmal..."
„SAG MAL, BIST DU VÖLLIG WAHNSINNIG GEWORDEN?", platzte es aus mir raus und Lukas zuckte zurück.
„Ich...Tim, das tut mir leid, das war ja nur...nur eine Idee...das muss ja nicht..." Aufgebracht ging ich einen Schritt zurück, wich von ihm weg und legte meinen Zeigefinger und Daumen an meinen Nasenrücken, nachdem ich meine Brille abgenommen hatte.

„Du willst also jemand anderen ficken", murmelte ich, mit geschlossenen Augen.
„Naja, also..."
„Und...wie soll das dann aussehen? Zuerst fickst du ihn und kommst dann abends zu mir, und lässt dich zusätzlich von mir durchficken oder was?"
„Nein, Tim, ich mein doch nur, wenn...wenn wir alleine sind, also, wenn du wieder bei dir in Bielefeld bist und..."
„Also, dass du dann quasi Single bist und machen kannst, was du willst? Ich glaub's ja nicht! Meine Fresse, Lukas, was geht bei dir falsch? Wir sind seit drei verdammten Jahren zusammen, wir lieben uns, haben regelmäßig Sex und dann kommst du mit so einer Scheisse an?" Lukas ging einen Schritt auf mich zu und ich wich wieder zurück. Mein Herz schlug abnormal schnell – das war ich gar nicht gewöhnt – und es tat weh. Es tat wahnsinnig weh, dort, links, hinter den Rippen.

„Fass mich jetzt ja nicht an. Du kannst in die verfickte Wanne steigen, wenn du willst, du kannst auch ertrinken, ist mir scheissegal, aber mit mir im Bett schläfst du heute Abend nicht." Und so kam es, dass wir zum ersten Mal nicht im gleichen Bett schliefen. Dass ich bald etwas tun würde, was eigentlich so gar nicht meinem Charakter entsprach, das hätte ich nie gedacht.


Gib mir die HandWhere stories live. Discover now