Kapitel 94

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POV Lukas
Berlin, jetzt
Ich kann mich noch gut an das erste Jahr erinnern, als Tim und ich zusammenkamen. Das erste Jahr als offizielles Paar. Ich war noch nie der Suchtmensch gewesen, ich trank vielleicht immer gerne Alkohol, ich würde jedoch auch gut ohne zurechtkommen. Dachte ich zumindest. Vielleicht war ich doch ein Workaholic. Das konnte meine Sucht sein, sollte ich nach einer suchen, um besser in meine Band zu passen und mich dem Rockstarleben anzupassen. Und ich hatte mich auch nie besonders mit dem Thema Sucht auseinandergesetzt, bis ich Tim kennenlernte. Der Junkie, der Suchtmensch, meine große Liebe. Der Mann, der eigentlich immer süchtig nach irgendetwas war – egal ob Gras, Pillen, Essen, nichts Essen oder eben meiner Liebe. Als wir zusammenkamen, genoss ich den Sex so richtig mit ihm. Diese Intimität, wie hart und zugleich liebevoll wir miteinander schlafen konnten, wieviel wir ausprobierten, wie oft wir uns liebten und nicht einfach nur einander um den Verstand fickten, wie sehr er mich verlangte. Ich genoss die Gefühle, die ich nur bei ihm spürte, neue Gefühle, die ich noch nie gespürt hatte, oder zumindest Gefühle, die ich vielleicht sogar schon bei einem anderen hatte, mich aber nicht mehr dran erinnern konnte. Das war übrigens etwas sehr typisches für mich: ich vergaß einfach, wie sich meine Ex-Freunde angefühlt hatten, wie groß oder klein ihr Penis war, das Kribbeln im Bauch, wenn sie mich küssten...das alles vergaß ich sobald ich jemand anderen kennenlernte.

„Lukas?"
„Ja?"
„Hab ich dir eigentlich einmal von meiner Zeit im Heim erzählt?" Ich dachte nach. Tim hatte ein Jahr lang im Heim verbracht, als er dreizehn Jahre alt war. Und das lag nicht daran, wie sein Stiefvater mit ihm umging, sondern eher, weil seine Mutter mit Tims Benehmen überhaupt nicht zurecht kam. Auch wenn er gerade einmal zwölf Jahre alt war, als das ganze „auffällige Benehmen" anfing, war alles, was er tat, in extremster Form. Andere Kinder würden die Eltern anschreien, weil ihnen die Schule egal war. Tim würde seine Eltern anschreien, weil er nach drei Tagen Verschwinden nur mal schnell etwas zu Essen von zuhause holen wollte und seine Mutter versucht hatte, ihn bei sich zu behalten. Das Nachbarskind würde sich im Zimmer einsperren und stundelang Computerspiele spielen. Tim würde sich im Zimmer einsperren und kiffen (später würde er sich LSD und andere Drogen einwerfen um einfach mal zu vergessen, um in eine andere Welt zu tauchen). Ja, bei Tim musste alles immer extrem sein. Natürlich hatte ich Tim erst kennengelernt als er Mitte Zwanzig war. Er lebte schon lange nicht mehr zuhause, lebte sogar in einer anderen Stadt und hatte sein Leben...immer noch nicht im Griff.
„Nicht wirklich", antwortete ich also, denn mein Freund hatte mir tatsächlich immer nur vague Erfahrungen geschildert; er würde nur von den schlechten Erfahrungen erzählen, wie es halt so ist, mit uns Menschen: wir erinnern uns immer nur an die schlechten Erfahrungen und verdrängen fast gänzlich die guten Ereignisse. Tim seufzte und schenkte sich ein Glas Wein ein. Anscheinend hatte ich doch einen guten Einfluss auf ihn.

„Also, ich war dreizehn Jahre alt, als meine Mutter eine örtliche Kirche anschrieb und sie fragte, ob sie wissen, was sie mit mir tun sollte. Die gaben mich dann weiter an eine Organisation, wo Kinder aus schwierigen Verhältnissen lebten. Das könnte nur für kurze Zeit sein, also vielleicht nur für ein paar Tage, weil die Eltern mal wieder auf Drogen abgestürzt waren, oder auch für längere Zeit, weil die Eltern sich einfach nicht um ihre Kinder kümmern konnten. Das erste Haus in dem ich war, schien unheimlich friedlich. Da waren drei Schwestern, deren Mutter sich immer Männer aussuchte, die gewalttätig waren und die Kinder deshalb in Gefahr brachten. Ich verstand mich ganz gut mit den dreien, die waren, glaub ich, elf, dreizehn und vierzehn Jahre. Die Älteste wurde interessanterweise immer von der Jüngsten unterbrochen und ausgeschlossen und verzog sich dann ganz gerne. Irgendwann waren die drei weg. Ihre Tante hatte sich ihnen angenommen und dadurch würde ich sie nie wieder sehen. Die Betreuer verloren somit auch den Kontakt zu ihnen. Jetzt kam aber eine andere zwölfjährige zu uns. Eltern drogenabhängig, alle fünf Kinder in verschiedenen Heimen und in Pflegefamilien."
„War das nicht ziemlich krass für dich? Immer diese kaputten Familien zu sehen? Oder deren Brut halt?"
„Ja, das war es auf jeden Fall. Und es war nicht so, als würden diese Kinder im Heim total brav sein. Also, dieses zwölfjährige Mädchen Janine. Die war total auf Kiffen, trinken und chromen."
„Was ist denn chromen?"
„Wenn man Deo oder Haarspray nimmt, es ins T-Shirt wickelt und dann einatmet. Macht einen etwas schwindelig, man ist auf einem euphorischen High und alles fühlt sich fusselig an."
„Ihr kommt ja auf Sachen..." Ich war mir sicher, dass ich als Kind so etwas noch nie getan hatte, geschweige denn jemanden kannte, der jemals auf eine solche Idee gekommen wäre. Aber gut, ich kam ja auch aus ganz anderen Verhältnissen als mein Geliebter.

„Also, diese Janine war einfach...unberechenbar. Ein ganz kleines, dünnes Mädchen, welches mit Schimpfwörtern nur so um sich warf, und gerne auch mal mit Essen warf."
„War sie denn wirklich so schlimm? Oder was genau machte sie denn eigentlich?"
„Sie war irgendwie...unvorhersehbar. Eines Tages knallte sie einen Teller auf den Tisch, sodass der zerbrach und ich und die anderen Kinder jeweils von ein paar Scherben getroffen wurden. Schlimm waren die Schnitte nicht, ein bisschen geblutete hatte ich. Ein anderes Mal – immer so gegen zehn Uhr nachts übrigens – fing sie mit uns eine Kissenschlacht an und die Sozialarbeiter waren mit ihren Nerven am Ende, weil sie erst um vier Uhr morgens ins Bett ging."
„Wieso habt ihr denn da mitgemacht?"
„Ich war ja auch erst dreizehn und irgendwie...hat Janine uns einfach ganz schnell in ihren Bann gezogen. Die machte so Sachen wie den Kühlschrank öffnen, vor dem Kühlschrank stehen und eine Himbeere rausnehmen, in diese beißen und sie dann auf den Boden spucken. Dann würde sie einfach weggehen und den Kühlschrank offen stehen lassen. Die hat auch eine ganze Packung Cini Minis im ganzen Haus verteilt und immer wieder Sachen kaputtgemacht. Und wir fanden das alles immer total witzig, wie verzweifelt die Sozialarbeiter waren, wie die versuchten, keine Reaktion zu zeigen, aber man es ihnen halt ansehen konnte, dass sie das Mädchen entweder am liebsten um ihren Verstand schlagen wollten, oder dass sie einfach das Haus verlassen wollten."
„Und Drogen? Also, härtere Drogen?"
„Drogen waren bei ihr immer Thema. Die war so stolz darauf, dass sie gekifft hatte, und ich war da natürlich auch immer sofort dabei. Vor allem, als sie dann anfing, Pillen mitzubringen. Das war natürlich nicht erlaubt, aber die Sozialarbeiter gingen ja auch nicht täglich durch unsere Zimmer. Also konnten die auch nicht so viel deswegen machen."

Ich überlegte. Wenn Tim wirklich so viel Zeit mit so vielen Kindern, die sich so benahmen, verbracht hatte, dann machte sein Benehmen natürlich auch Sinn. Auch wenn er älter war, schien er schnell in die Fußstapfen anderer zu treten.
„Gab es denn auch gute Pfleger? Oder irgendwelche anderen Kinder, mit denen du dich gut verstanden hattest?" Mein Freund überlegte, zog einmal an seiner Zigarette und aschte dann in den Aschenbecher.
„Ja, da gab es eine junge Frau, Mitte Zwanzig. Die hatte gerade erst mit dem Job angefangen und wusste nicht so richtig, was sie da eigentlich tat. Ihr wurde aber auch nicht viel geholfen. Und die anderen Pfleger gaben ihr immer die Problemkinder, wie mich, während sie selber die anderen – also die „guten" – Kinder auf Märkte und schwimmen nahmen."
„Du warst also tatsächlich ein Problemkind? Sogar in dem Umfeld, wo Problemkinder ja richtige Problemkinder waren, also echt schlimme Dinge taten?"
„Ja, genau. Ich wurde so schnell aggressiv, kickte viel, machte unglaublich viel kaputt und war auf Drogen halt, ne?"
„Was hat diese Betreuerin dann gemacht?"
„Die hat mich einfach nett und respektvoll angesprochen. Kein 'Jetzt hör endlich auf, Tim! Bist du wahnsinnig, Tim? Ich klatsch dir gleich eine!' Das haben die anderen immer gesagt. Und die war...einfach immer da."

POV Tim
Kinderheim Heiterkeit, 1999
Ich hing gelangweilt in meinem Zimmer und hörte laut Rapmusik. War doch eh alles beschissen und wenn die behinderte Janine immer ihre Musik so laut hören durfte, dann sollte ich ja mit meiner kontern können. Außerdem pfiff ich auf die Regel, dass die Türen immer offen sein mussten. Ich zeichnete gerade irgendein Graffiti an die Wand, als es an der Tür klopfte. Das hier war ja eh nicht mein Zuhause und würde es auch nie werden.
„Hey Tim?", fragte mich die Sozialarbeiterin Susi, die ich eigentlich am wenigsten hasste. Ich antwortete nicht.
„Willst du mit rauskommen? Mal rumfahren?"
„Wohin?"
„Irgendwohin. Einfach mal raus aus diesem Haus, das macht dich doch wahnsinnig, immer hier drinnen zu hocken."
„Keine Ahnung."
„Was machst du denn da Schönes?", fragte sie mich, obwohl ich genau wusste, dass sie wusste, dass wir nicht auf die Wände malen durften, und dass sie aus einem guten Haushalt kam, wo man Messer und Gabel benutzte, wo man die Nachrichten mit den Eltern ansah und sich gute Nacht sagte. Ich zuckte die Schultern und malte weiter. Mein tag wurde immer besser.
„Schau mal", fing sie an und hockte sich neben mich.
„Ich glaube, dass es dir gut tun würde, einfach mal das Haus zu verlassen. Wir müssen auch nicht im Auto reden, du kannst deine Musik anmachen und ich fahr einfach nur, ok?" Eigentlich klang das sehr gut und im Grunde genommen war das genau das, was ich wollte. Ansehen ließ ich es mir aber nicht.
„Von mir aus", meinte ich gespielt gelangweilt und stand stöhnend auf, was ein Lächeln auf Susis Gesicht zauberte. Ich mochte sie wirklich gerne, sie kümmerte sich immer um mich, sie umarmte mich, las mir Geschichten vor und lachte mich auch nicht aus, als ich völlig blau nachhause kam und sie mich waschen musste, weil ich das halbe Haus vollgekotzt hatte. Und ja, vielleicht wichste ich ab und zu, wenn ich an sie dachte. Kommen konnte ich aber nie, und mir war auch nicht wirklich klar warum

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