10| Einsamkeit

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Es gibt Tage im Leben, in denen man sich selbst mag. Man sieht in den Spiegel, man sieht sich selbst. Einem fällt das eigene Lächeln im Gesicht auf und man fängt automatisch an, noch breiter zu lächeln, sogar zu strahlen, weil man sich glücklich sieht. Weil man glücklich ist.

Diese Tage hatten mich lange begleitet. Ich war unglaublich glücklich, ich konnte meine Sorgen verdrängen, meine Ängste und meine Paranoia. Wenn man mich sah, dann war ich am Lächeln, weil ich alles in vollen Zügen genoss.

Und dann gibt es Tage, da verschwindet alles von einem auf den anderen Tag. Es ist nicht so, als sei etwas Weltbewegendes geschehen. Es können sich um Kleinigkeiten handeln, eine kleine Bemerkung, ein Gedanke, ein Anblick und das Schlechte kann von einem auf den anderen Moment in Gang gesetzt werden.

Ich würde lügen, wenn ich behauptete, all meine Angst, die mich seit jenem Tag begleitete, sei mit der Gefangennahme von Jack verschwunden. So war das Leben nicht konstruiert. Niemand konnte etwas vergessen, mit etwas vollständig abschließen.

Einem Menschen geschahen furchtbare Geschehnisse, die ihn das ganze Leben über prägten. Man konnte sich nicht aussuchen, ob man es vergäße oder damit lebte, sondern ob man sich davon runterbringen ließe oder damit umzugehen versuchte.

Nathan hatte mir einst gesagt, dass es auch gut so ist. Dass man nicht von mir erwartet, so zu tun, als sei nie etwas gewesen. „Dieser Tag ist ein Teil von dir, Claire. Niemand kann dir das nehmen, unabhängig davon, ob das gut oder schlecht ist. Auch du kannst es nicht ablegen. Nicht von einem auf den anderen Tag. Falls du jemals wieder in dieses Loch fallen solltest, scheu dich nicht, die Hand nach mir auszustrecken, denn ich schwöre bei Jasons Spongebobboxershorts, ich werde dich ausziehen. Ich meinte rausziehen."

Und letzten Endes war es das, was mich verletzte. Sein Schwur, welchen er nicht einzuhalten dachte.

Es hatte die Nacht über gewittert, ich konnte kein Auge schließen. Und das, obwohl heute Weihnachten war. Ich hatte ihm geschrieben. Ihn angerufen. Ich brauchte ihn, aber er reagierte auf nichts.

Meine Gedanken versuchte ich die ganze Nacht über mit dem Lesen zu verdrängen, doch immer wieder tauchte Jack vor meinem inneren Auge auf. Immer wieder hörte ich seine Worte in meinen Ohren. „Weil du es nicht verdient hast, glücklich zu sein." Immer wieder spürte ich die Kälte um mich herum. Immer wieder fühlte ich das Brennen der Schnitte auf meinem Rücken.

„Claire, es ist Weihnachten!", kreischte Aidans schrille Stimme in meinen Kopf hinein.

Monoton blinzelte ich, um meine Sicht wieder zu verschärfen. Was mir entgegenblickte war ein braunhaariges Mädchen mit leeren Augen, die das Gefühl vom Verlassenwerden verbargen.

Dean hatte Phillip. Ashley hatte Logan. Aidan verbrachte zurzeit viel Zeit mit den Zwillingen, Jason und Liz. Und Nathan hatte nun Ivy.

Die Tür öffnete sich, doch ich blieb einfach vor dem Spiegel stehen, ließ meinen Blick zu Aidan gleiten, welcher aufgeregt in seinem Pyjama auf und ab sprang, bis er abrupt stehenblieb und mich betrachtete.

Gott, es war Weihnachten, ich sollte mich zumindest meiner Freunde wegen freuen.

„Frohe Weihnachten." Mein Lächeln war zögernd, irgendwas zwischen echt und gefälscht, doch das war okay. Aidan wusste es zu schätzen, dass ich es versuchte. „Frohe Weihnachten, Kleines."

Wortlos ließ ich mich von ihm umarmen und mir einen Kuss auf die Stirn drücken. So verweilten wir eine Weile, bis er mir berichtete, dass Dad von der Geschäftsreise nicht wieder heimkehren würde und unsere Mutter mit Freunden Weihnachten feiern würde, aber unsere Geschenke sich unten vor dem pompösen Weihnachtsbaum befanden, welcher das Haus das gewisse Flair geben sollte.

Nickend gab ich ihm zu verstehen, dass ich seine Worte zur Kenntnis genommen hatte, sie mich jedoch nicht überraschten.

Ich war meinem großen Bruder unfassbar dankbar in diesem Moment, dass er nicht versuchte, etwas aus mir herauszuquetschen, sondern darüber hinwegsah. Oder zumindest so tat.

„Hey, Lansters!", ertönte Jasons Stimme auf einmal. Verwirrt wendeten wir beide uns an das Fenster, in welchem Jason zu sehen war. Er selber hing halb aus seinem heraus, obwohl es nicht einmal nötig war. „Kommt ihr vorbei? Uns ist langweilig."

Ohne, dass ich etwas beitragen konnte, sagte Aidan begeistert zu.

„Das wird lustig", hatte er mir zugeflüstert und mir in die Seite geknufft. Ich zweifelte auch nicht daran. Allein wegen Nick würde es cool werden.

„Außerdem hast du Ihnen doch auch Geschenke gekauft. Außer dieser Karton da vorne, der von Geschenken überquillt, ist nur für mich, aber so eine perfekte Schwester bist du auch noch nicht." Mit einem frechen Grinsen flüchtete er aus meinem Zimmer, dabei glücklich Jingle Bells summend.

Mit einem Mal spürte ich wieder das Brennen der Narben. Es war, als würde jemand mit einem glutheißen Messer über meine Haut fahren, langsam, aber mit Druck. Als würde jemand es genießen, wie meine Haut Millimeter für Millimeter der Spitze des Messers nachgab und sich teilte, während mein Blut an die Oberfläche drang, wie ein Ertrinkender nach Sauerstoff zu schnappen versuchte.

Die Panik und der Schmerz – sowohl psychisch als auch physisch – ließ mich mein T-Shirt gewaltsam von meinem Körper reißen. Ich spürte die kalte Luft meinen Rücken entgegenhauchen, in die Risse meines Lebens hineindringen und sich dort ausbreiten, doch das kühlende Gefühl blieb aus. Es war viel mehr als würden Hitze und Kälte aufeinanderprallen und in einem lauten Grollen ihre Energie entladen wollen.

Und doch sah ich im Spiegel nichts. Kein Blut, keine Risse, keine Rötungen, einfach nur eine riesige Narbe voller Erinnerungen und Emotionen.

Mich unwohl fühlend schluckte ich den aufkommenden verzweifelnden Schrei hinunter und schloss meine Augen gequält, um dem Anblick zu entgehen und mich zu sammeln. Es war nicht der richtige Tag, um meinen Gefühlen nachzugeben.

Es würde nie der richtige Tag kommen.

Findet ihr Claires Gedanken gerechtfertigt?

VIELEN DANK FÜR 70k+ READS VON PLEASE, NOT AGAIN; WIR HABEN'S GESCHAFFT, PLATZ 3!♥

Auch vielen Dank an alle meine Leser für 1k Reads♥

Nächstes Kapitel wird ein Happy-Christmas-Kapitel *hust* mitten im Sommer *hust*:) xT

Please, once againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt