32| Clownsgrinsen

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Es war eigentlich recht amüsant gewesen, als Nathan seinen Vater wie einen guten Kumpel hergebeten hatte und dieser – als sei es alltäglich – die Luke hochgestiegen kam. Doch der Spaß hielt nicht lange an, denn Christians anfängliches Grinsen wich schnell dem Ernst. Die Ordner, welche er zuvor unter seinem Arm geklemmt hatte, lagen nun auf dem Schreibtisch und unentschlossen blickte er zwischen diesen und mir hin und her.

Er war alles andere als begeistert, mich die Bilder sehen zu lassen, aber meine Entscheidung stand fest. Und dem war er sich auch bewusst. Laut ihm sei das nichts für meine Augen, doch ich hielt an dem Glauben fest, dass es mir besser gehen würde, wenn ich Gewissheit über die Situation hätte. Wenn ich ausschließen konnte, dass wir uns nur im Teufelskreis gedreht haben könnten.

„Papa", stöhnte Nathan entnervt auf und massierte sich die Schläfen, während er sich noch weiter in dem Bürostuhl sinken ließ, „sei nicht so dramatisch. Wir beide wissen, dass Claire die Bilder früher oder später sehen wird und dann lieber jetzt, wenn wir für sie da sein können."

Gereizt zog der Angesprochene seine Augenbraue hoch und erwiderte: „Sohnemann, achte auf deinen Ton. Ich bin mir dem durchaus bewusst, du kleine Nervensäge."

Ein kleines Lachen entkam mir, während ich innerlich wohlig aufseufzte. Christian war in meinen Augen ein unglaublich süßer Vater, man sah ihm die Sorge und Liebe für seinen Sohn an. Ich wünschte mir in diesem Moment so sehr, einen ähnlich fürsorglichen Vater zu haben, der ebenfalls ohne Zögern für einen da wäre.

„Claire, ich möchte, dass du weißt, dass du dir diese Bilder nicht angucken musst. Ich kann dir versprechen, dass er tot ist. Mausetot sogar. Mehr als das! Aber mein Kleines, tu dir das nicht an. Du hast schon genug Schreckliches gesehen."

Mitfühlend legte sich seine Hand auf meine Schulter. Berührt lächelte ich ihn an und nickte ihm als Dank zu. Sein Beistand bedeutete mir wirklich viel. Nun, wo ich wusste, dass er mich ohne Zögern vor diesem Schrecken gerettet hatte und mich bei sich aufgenommen hatte, sah ich in ihm meinen eigenen persönlichen Retter. Niemals würde ich wiedergutmachen können, was er mir gegeben hatte.

Ohne den Moment weiter in die Länge zu ziehen, griff ich nach dem Ordner und zog ihn weiter an den Rand, sodass ich ihn ohne Probleme öffnen konnte. Direkt tauchte eine Akte über Milow Smith auf, gemeinsam mit einem kleinen Bild von ihm in der Ecke. Es waren biografieähnliche Daten und einige Bemerkungen zu sehen, die ich jedoch nur grob überflog. Auch die nächsten Blätter las ich eher schlecht als recht durch; es waren Aufzeichnungen über seinen Vater und ihn, über seine Straftaten und seinen Mordversuch. Aber es war nicht die richtige Zeit, mir diese aus objektiver Sicht geschilderte Darstellung durchzulesen. Und ein großer Teil in mir wollte dies auch gar nicht.

Die Aufregung stieg immer weiter an und mit ihr die Übelkeit. Ich musste schluckend zugeben, dass ich keinerlei Ahnung hatte, was ich erwarten sollte. Wie ich auf die Bilder reagieren würde, auf seine Leiche und auf die Tatortbilder, die mir beweisen würden, dass es mit dieser Familie ein für alle Mal vorbei war.

Ich sah eine kleine Büroklammer zwischen den Seiten hervorstehen. Instinktiv griff ich nach dieser und fuhr vorsichtig die Kante entlang, um die entsprechende Seite aufzuschlagen. Als hätte mein Bauchgefühl es gewusst, enthüllte ich damit eine Klarsichtfolie, in welcher verschiedene Fotos waren. Und obwohl ich damit gerechnet hatte, jeden Moment die Tatortaufnahmen zu entdecken, zuckte ich dennoch kurz erschrocken zusammen und kniff wie aus Schock die Augen für eine Millisekunde zu, um sie anschließend ein wenig aufzureißen.

In meinem Kopf kam mir diese Reaktion natürlich war, unauffällig und verständlich, doch ich wusste, dass Nathan, Jason und Christian mich in diesem Moment besorgt musterten. Ich griff nach dem Ring, welcher meinen Finger zierte und drehte leicht an diesem, um mich selbst für diesen Moment zu beruhigen. Es waren nur Fotos.

Tapfer ließ ich meine Hand in die Folie hineingleiten und nahm den kleinen Stapel an Bildern heraus. Mein Blick blieb dabei stets auf dem obersten fixiert, in welchem Milow mit einem leeren Lächeln zu sehen war. Es war so beängstigend und verstörend, dieses verrückte Grinsen, welches sein Gesicht verzierte.

„Wie Pennywise", murmelte Jason angewidert und verdiente sich damit einen ungläubigen Blick von Nathan und ein unterdrücktes Lachen von Christian. Ich hingegen guckte nur für eine Millisekunde hoch, dann aber wieder direkt auf die Bilder.

Ein flaues Gefühl machte sich in mir breit. Wie verrückt musste man sein, um während des qualvollen Sterbens so zu grinsen. Denn die aufgeschlitzte Kehle deutete keineswegs auf ein friedvolles, schmerzloses Gehen an.

„Er soll sich selbst die Kehle aufgeschlitzt haben?", fragte ich zweifelnd und legte das oberste Foto nach hinten auf den Stapel, um das nächste zu betrachten. Und die Pulsadern.

Zustimmend nickte Christian und massierte sich seine Nasenbrücke. „Die Autopsie hat ergeben, dass er sich zuerst seine Handgelenkadern horizontal aufgeschnitten haben soll und voller Adrenalin anschließend seine Pulshalsschlagader. Offiziell also ein Suizid."

Ich nickte verstehend. „Und womit?", fragte ich weiter und blätterte das fünfte Foto um. Und damit hat sich meine Frage erübrigt. Ein stumpfes Brotmesser war zu sehen, Hautfetzen und reichlich viel Blut klebten an der Klinge. Schnell legte ich das Foto weg, um meinem Magen keinen Grund zu geben, noch mehr zu rebellieren. „Hat sich erledigt."

Das Geräusch der Stuhlrollen verbreitete sich im Raum. Kurz darauf tauchte ein Arm in meinem Blickfeld auf und griff nach dem Stapel, um diesen anschließend wieder im Ordner zu verstauen. „Das ist genug", murmelte Nathan und seufzte besorgt. Ich nickte stumm und setzte mich auf den nun freien Stuhl, während ich versuchte, meine Gefühle zu filtern.

Wie erwartet war zu einem Teil die Erleichterung da, denn diese Fotos versicherten mir seinen tatsächlichen Tod. Aber andererseits war es auch die Furcht. Denn wenn das wirklich kein Suizid gewesen war, dann lief noch jemand anderes herum, welcher ohne Skrupel Menschen ermordete. Und wenn Milow das Opfer dieses Mordes war, dann waren die Verbindungen zu mir, zu uns, unmittelbar vorhanden und nicht fern für den Täter.

Please, once againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt