14| Briefgeheimnis

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Ich lag nicht falsch. Die Schritte waren da, ich hörte sie noch immer. Sie verschwanden nicht, aber ich konnte nicht einschätzen, ob sie näher kamen oder sich entfernten.

„Clarice, ich bin zurück."

Ein Schluchzen entkam meiner Kehle und erschrocken biss ich mir auf die Hand. Halt deine verdammte Klappe, Claire! Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Was für ein Spiel trieb man mit mir? Er konnte nicht zurück sein, Jack ist in einer gottverdammten Psychoklinik.

„Claire!", hörte ich plötzlich rufen. Die Schritte verstummten. „Claire, bist du hier?"

Ich wusste nicht, was mich in diesem Moment dazu geritten, doch ich fing an, zu schreien. Mein Gehirn hatte noch nicht einmal verarbeitet, wer mich gerufen hatte, doch es kam aus Richtung des Schulhofes, weshalb mein gesunder Menschenverstand noch daraus schließen konnte, dass es nicht der Gleiche war, vor welchem ich mich zu verstecken versuchte.

Hat auch ganz gut funktioniert, bis du angefangen hast, zu schreien.

Schritte ertönten erneut. Doch es waren mehrere Schritte zu hören, viele sogar. Und doch stachen besonders die Schritte einer Art heraus und zwar die, welche schnell und bestimmt waren und sich als einziges entfernten, leiser wurden, bis sie schließlich von der dunklen Winternacht verschluckt wurden.

Und dann erst fokussierte ich mich auf die harten, unregelmäßigen Schritte, welche sich näherten, so nah erschienen und doch zu weit, als dass ich aufblicken konnte, als sie verstummten.

Ich ging davon aus, dass die Person vor mir haltgemacht hatte, doch die Kraft, jemandem jetzt in die Augen zu schauen, jemandem jetzt über den zertrümmerten Mauerhaufen blicken zu lassen in das Innere meiner Seele, konnte ich nicht aufbringen.

Meine Gedanken waren ungeordnet, meine Sinne vernebelt. Immer wieder schwirrte dieser eine Satz in meinem Kopf: „Clarice, ich bin wieder zurück. Ich bin wieder zurück. Ich bin wieder zurück. Ich bin wieder zurück." Immer und immer wieder, wie ein niemals endender Echo.

„Er ist zurück." Ein Hauchen, sonst nichts, begleitet von dem Tränenschimmer, welcher meine Sicht zu trüben wusste. „Er ist zurück. Er wird zu Ende bringen, was er nicht beenden konnte."

-

Mir waren Zeit- und Hungergefühl entschwunden, die Paranoia hatte sie ersetzt. Ich wurde verrückt. Verrückt und krank in meinen eigenen vier Räumen, die Vorhänge stets zugezogen, die Tür abgesperrt. Aber ich fühlte mich sicher. Vor ihm.

Es waren erst zwei Tage vergangen. Ich hatte mit niemanden geredet. Nur mit Jason, als er mich aufgefunden hatte. Wobei man selbst das nicht reden nennen konnte. Ich hatte immer wieder vor mir her gemurmelt, er sei da gewesen. Und im Nachhinein fragte ich mich selbst nur noch, ob dies tatsächlich geschehen war oder mein Verstand mich lediglich verspotten wollte.

Die zwei Tage über hatte es im Stundentakt geklopft, gerüttelt und gerufen. Angefangen mit Aidan, dann Dean und dann Ashley. Wenig später sogar Jason und Liz. Und auch Nathan.

Keiner hatte zu mir durchdringen können, außer Nathan. Er hatte es geschafft, dass etwas in mir bewegt worden war, welches die Tränen in meine Augen getrieben hatte. Dieses Gefühl einer riesigen Leere.

Ich konnte ihn nicht einfach sehen, so sehr ich es auch wollte. So sehr ich seine Arme um mich spüren wollte, seine beruhigenden Worte in mein Ohr flüstern hören und seine zärtlichen Berührungen an meinem Rücken fühlen. Seine Nähe würde mich nur noch mehr verwirren, weil der Gedanke, dass er niemals mehr als ein Freund sein würde, dass er verlobt war, mich viel zu sehr störte und ich da nichts gegen unternehmen konnte.

Ein stechender Schmerz holte mich zurück in die Gegenwart. Mein Rücken brannte, obwohl meine Wunde bereits verheilt war. Zumindest soweit, dass es nicht mehr blutete oder ähnliches. Es war der psychische Schmerz, welcher mich aufschreien ließ, welcher das Gefühl hinterließ, der Haut entzogen worden zu sein. Es fühlte sich an, als hätte jemand Hautfetzen für Hautfetze von mir gelöst und stattdessen mit einer Salzschicht ersetzt, welche sich langsam Sekunde für Sekunde in meinem Blut auflöste.

Noch ehe ich mich aufhalten konnte, entfloh ein Wimmern meine Kehle, ein Schluchzen meinen Körper und die Tränen meine Augen.

Wieso hatte dieser Albtraum nicht aufgehört? Mir wurde versprochen, es sei vorbei mit der Einweisung von Jack, Milow oder wer immer er war. Und er saß in der Klinik. Er war dort zwangseingewiesen. Oder war er vielleicht geflohen?

Angestrengt versuchte ich, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war unrealistisch, dass er tatsächlich entflohen sein konnte. Man hätte mich benachrichtigt. Ja, benachrichtigt, damit ich mich noch in Schutz bringen könnte.

Stolpernd stand ich von meinem Bett auf und torkelte zu meinem Schreibtisch. Ich ignorierte das Schwindelgefühl, die Kopfschmerzen und meinen verschwommenen Blickfeld. Einzig allein mein Vorhaben zählte in genau diesem Moment, und dieser war vielleicht nicht der klügste Einfall, aber für mich klug genug, um meine Tränen grob wegzuwischen.

Hastig riss ich meine Schublade auf und verharrte kurz, als mir die Briefumschläge mit entgegenblickten. Sie waren genauso unordentlich reingeschmissen worden, wie ich auch die Namen der Adressaten unordentlich verewigt hatte. Ich schmeckte den bitteren Nachgeschmack bei den Erinnerungen daran, was ich alles hineingeschrieben hatte.

Es war reines Glück, dass Aidan seinen Brief als erstes gelesen und alle anderen verstaut hatte, weil ihm bewusst war, für welchen Fall diese Briefe ausgeteilt werden sollten. Und dieser war nicht eingetreten.

Mit verzerrtem Gesicht schüttelte ich leicht meinen Kopf und begrüßte damit die Kopfschmerzen vom Neuen, um mich wieder auf meine Suche konzentrieren zu können. Ich griff nach den Briefen, verweilte länger als gewollt, legte sie aber anschließend beiseite, um einen gewissen Brief zu finden.

Ich schniefte unter Tränen, doch konnte mir ein frustriertes Schnauben nicht unterdrücken, als ich den Schreibtisch vollends durchsucht, jedoch nichts gefunden hatte. Ich brauchte diesen Namen der Psychiatrie, doch der Brief war verschwunden.

Verwirrt fasste ich mir an die Schläfe, in der heimlichen Hoffnung, damit die Erinnerungen anzutreiben, um mich an den Standort des Informationsbriefes der Polizei zu erinnern, in welchem man mir mitgeteilt hatte, wie Milows Strafe aussehen würde. Und ebenso war dort die Angaben zu dem Ort der Anstalt verzeichnet.

Denn eines stand für mich fest; ich würde mich selbst vergewissern, dass er sich noch dort befand, wo er hingehörte und sei es auch das Letzte, was ich täte. Denn wenn er tatsächlich frei wäre, dann könnte es tatsächlich das Letzte sein.

Vielleicht würden die Briefe ja doch noch ihre Funktion erfüllen.

Was glaubt ihr? Ist Jack (aka. richtiger Name= Milow) frei oder wer ist es, der ihr in den Wald gefolgt war?

xT

Please, once againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt