Kapitel 16

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Niemand wollte so recht wahr haben, was Shirley eben gesagt hatte. Der Mistkerl Justin aus ihrer Vergangenheit, dem sie diese schreckliche Narbe verdankte, hatte sie so eben angerufen. Das war sehr wahrscheinlich nicht sein erster Anruf gewesen. Wenn sie sich an die anderen Anrufe zuvor erinnerte, mit jeweils unterdrückter Nummer, fröstelte sie.

War das jedes Mal Justin gewesen? Aber was wollte er nach Monaten noch von ihr? Sie war fort, aus seinem Leben verschwunden.
Unbehaglich fasste sie an ihre Arme und starrte auf den Boden, wo noch immer ihr Handy lag und sie mit einem eiskalten Grinsen zu verhöhnen schien. Natürlich passierte das nicht wirklich, es fühlte sich aber so an.

Tina hob vorsichtig das Gerät auf und reichte es Shirley. Doch diese war unfähig sich zu bewegen. Also starrte sie noch immer das Telefon an, als wäre es Gift.
Als Leon sie erneut anfassen wollte, verkrampfte Shirley wieder.

Nein, nicht bei Leon, er durfte sie doch anfassen. Endlich schenkte sie ihm ihre Aufmerksamkeit. Sie brauchte nichts zu sagen. Vermutlich sah er den Schock und die Angst in ihren Augen.
„Ich verstehe es nicht", kam es auf einmal von Ian.
„Justin, ist das der Kerl, dem du diese...", er schluckte kurz, „...diese Narbe zu verdanken hast?"

Sie nickte knapp. Und wieder lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Warum sollte er dich anrufen?", fragte Leon und sah sie immer noch besorgt an. Doch unternahm er keinen weiteren Versuch sie anzufassen. Dabei hatte er sie doch gerade erst geheilt. Oder nicht?

Alles was er in den vergangenen Tagen erreicht hatte, war durch Justins Anruf zunichte gemacht. Er besaß nach wie vor zu viel Macht über Shirley.
„Es ist ein krankes Spiel von ihm", entgegnete sie. „Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ehrlich, ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll."

„Zuerst beruhigst du dich."
Leon wagte doch einen Annäherungsversuch und tatsächlich ließ sie ihn gewähren. Natürlich tat sie das. Er nahm sie vorsichtig in den Arm und strich ihr beruhigend übers blonde Haar. Ja er durfte das. Er durfte alles!

„Was ist los?", fragte Tim, der mit seiner Freundin die Nacht ebenfalls bei den Rox verbracht hatte.
„Habt ihr Ärger, Leon?"
„Das weiß ich noch nicht genau. Es ist gut möglich, dass ich demnächst deine Hilfe benötige."
„Natürlich, du musst nur was sagen."
Leon nickte. Dann sah er wieder zu Shirley.

„Du musst nach Hause. Sonst ist dein Vater das größere Problem für uns."
Sie sagte nichts dazu und ließ sich von Leon im Mustang nach Hause fahren. Die gesamte Fahrt über blickte sie schweigsam aus dem Fenster.

„Das wird schon wieder", hörte sie Leon nach einer Weile sagen.
„Du bist jetzt ein Teil von den Rox. Wir lassen nicht zu, dass dir irgendjemand schadet."
Er wollte sie ganz sicher beruhigen, nur half es nicht. Wenn Shirley sich wenigstens sicher sein konnte, dass Justin in der Nähe war und ihr auflauerte, könnte sie sich noch entscheiden wegzulaufen. Aber diese Ungewissheit machte sie krank.

Wollte er sie nur erschrecken, oder plante er tatsächlich etwas? Er hatte nichts gesagt. Nur ein „Hallo Shirley" hatte ausgereicht, um ihre Welt ins Chaos zu stürzen. Gerade nachdem sie endlich wieder Vertrauen gefasst und sich neu verliebt hatte.

Jack kam gleich aus dem Haus, als Leon den Wagen direkt davor anhielt. Sein kritischer Blick musterte den jungen Mann.
„Muss ich was sagen?", knurrte er.
„Nein. Ich bin mir im Klaren darüber, dass ich eigentlich gestern hätte nach Hause kommen sollen. Zumindest hätte ich dir früher eine Nachricht schicken sollen. Es tut mir leid."

Jack zwang sich den Blick von Leon abzuwenden, der mittlerweile auch ausgestiegen war. Dann galt seine Musterung seiner Tochter.
„Ist alles in Ordnung?"
Vermutlich erwartete er von ihr irgendetwas schlechtes über Leon zu hören. Da konnte er lange warten. Kurz überlegte Shirley ihrem Vater von dem Anruf zu erzählen. Dann ließ sie es bleiben. Sie wollte nicht sofort darüber reden.

Für immer Sommer Where stories live. Discover now