1. Türchen

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Für diese eine, besondere Person <3

Wenn Julia eines in ihrer Schulzeit gehasst hatte, dann definitiv die Pausen. Jener heiß ersehnte Glücksmoment der anderen Schüler, war für sie bloße Langeweile und nicht selten verbrachte sie sie klammheimlich in der Bibliothek, auch wenn sie es nicht durfte. In der Bibliothek ganz oben, direkt auf dem Dachboden der Schule hatte sie ihre Ruhe vor den anderen, mit denen sie ohnehin nichts anfangen konnte. Hier gab es nur sie und die Bücher, Welten in denen sie sich verlieren konnte und die ihr das ein oder andere Lachen entlockten. Auf dem Schulhof lachte sie nie. Inmitten der anderen war es ihr vergangen. Während all die anderen sich in Gruppen zusammenfanden, stand sie immer allein, wenn man sie in der Bibliothek erwischte und hinaus bat. Sie passte zu keiner der Gruppen. Für die einen war sie nicht hübsch genug, für die anderen zu tollpatschig, mal hatte sie nicht den richtigen Humor, mal war sie zu langweilig. Ihr war klar, dass sie nie zu den Coolen gehören würde. Diese bestanden in ihrer Schule sowieso nur aus den Schülern der Sportlerklassen und bei denen konnte sie nicht mithalten. Aber sie hatte gehofft, jemand anderen zu finden. Irgendjemand. Am liebsten jemand, der so wie sie gerne Bücher las und Pferde mochte, doch diese Ansprüche hatte sie irgendwann über Bord geworfen. Sie blieb allein. Allein mit ihren Gedanken und allein auf ihren täglichen Wegen zur Schule und zurück.

Mit Beginn der Oberstufe war es ihr und den anderen erlaubt worden, in den Pausen zu dem kleinen Lebensmittelgeschäft drei Straßen weiterzugehen. Ein Privileg, welches nur den älteren Schülern vorbehalten war. Emilio, war der Besitzer jenes Ladens, bei dem sie sich fortan jede Pause reichlich mit Schokolade bestückte, um sich mit dieser in den Pausen in die Bibliothek zu stehlen. Es dauerte nicht lange, bis Emilio sie beim Namen kannte und ihr ihre Tafeln Schokolade bereits an die Seite legte. Sie mochte ihn. Emilio machte ihre Pausen ein kleines Stückchen besser.

Zu dieser Zeit begann sich etwas zu verändern. Wo man Julia vorher noch ignoriert und als unwichtig abgetan hatte, wurde ihr mit einem Mal Aufmerksamkeit geschenkt, nur nicht im positiven Sinn. Schikanierungen, Witze auf ihre Kosten und das ein oder andere gestellte Bein, gehörten schon bald zu ihrem Alltag. Es kam der Zeitpunkt, wo sie nicht mehr sagen konnte, wo sie es weniger aushalten konnte: Zuhause, wo alles drunter und drüber lief, oder in der Schule, wo alle sie hassten.

An einem besonders kalten Novembertag hatte sie sich wie immer in der Pause wieder zu Emilio aufgemacht. Nachdem ein Junge aus ihrer Klasse ihren Aufsatz aus ihrer Tasche geklaut hatte, war das Bedürfnis nach Schokolade an diesem Tag besonders groß und auch Emilio zu sehen, tat in diesen Fällen gut. Dem kalten Wind zum Trotz suchte sie sich ihren Weg durch die anderen Schüler, die ebenfalls auf den kleinen Laden zu drängten. Sie vergrub sich tief in ihrem Schal, weil sie nicht wollte, dass sie jemand erkannte. Als sie den Laden betrat, war dieser bereits gut gefüllt, wie in jeder Pause. Geduldig stellte sie sich in der Schlange an, wohlwissend, dass ihre tägliche Schokodosis bereits bei Emilio auf sie wartete. Ein Lächeln erlaubte sich auf ihren Lippen abzuzeichnen. Bis es zerbrach, als sie Jonas Stimme nur wenige Meter hinter sich vernahm. Jonas war ein Riese, der mit seiner Körpergröße über zwei Metern aus der Masse hervorstach und ein Ego besaß, dass seine Größe sogar noch übertraf. Er hasste sie und sie ihn. Er verkörperte alles, was es brauchte, um beliebt zu sein. Er war hübsch, in den Augen anderer witzig und vor allem Sportler. Er spielte erfolgreich Basketball und strebte eine Profikarriere an, wenn man den Gerüchten um seine Person glauben konnte. Aber für Julia spielte das keine Rolle. Für sie war Jonas bloß ein Junge, der jede Gelegenheit nutzte, um sich einen Spaß zu machen und sie zu erniedrigen. Fest umklammerte sie das Zweieurostück in ihrer Hand. Mit etwas Glück würde er sie übersehen.

Der Gedanke hatte nicht einmal die Zeit, sie etwas zu beruhigen, da stülpten ihr schon fremde Hände ihr ihre Kapuze über und beraubten sie ihrer Sicht. Panisch griff sie danach, um sie sich wieder von den Augen zu reißen, doch da entrissen ihr grobe Finger bereits das Geld.

„Nicht", entkam es ihr verzweifelt, während sie endlich ihre Kapuze zu fassen bekam, sie herunterdrückte und in Jonas breitgrinsendes Gesicht sah.

„Ach, die Julia", flötete er fröhlich, „Will sich wieder Schokolade kaufen, um noch dicker zu werden. Ein Wunder, dass deine Hosen noch nicht platzen. Sieh's positiv, ich will dir nur helfen, deine Probleme in den Griff zu bekommen."

Er streckte ihr noch die Zunge heraus, bevor er sich mit seinen lachenden Freunden an den anderen vorbeidrängte, um zu Emilio zu gelangen. Natürlich machte man ihm Platz. Es war Jonas. Man stellte sich ihm nicht in den Weg. Zurück blieb Julia. Sie blinzelte und sah hinab zu ihren leeren Händen. Im ersten Moment kämpfte sie. Aber sie hatte zu oft gekämpft in den letzten Monaten. An zu vielen Fronten hatte sie ihre Kraft verloren und so schossen ihr die Tränen in die Augen und liefen ihre Wangen hinab. In solchen Augenblicken konnte sie sich selbst nicht leiden, sie hasste ihre Schwäche, fast noch mehr als Jonas. Zum Glück verdeckte ihr Schal die meisten Tränen, die sich heiß auf ihrer kalten Haut anfühlten. Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geformt, doch sie fanden ihren Weg zurück in ihre Jackentaschen. Ihre Schultern sackten herab, weil sie wusste, dass sie nichts tun konnte, dass dieser miserable Tag nicht besser werden konnte. Emilio würde heute umsonst auf sie warten. Traurig und in sich zusammengefallen verließ sie den Laden. Auch wenn sich alles in ihr sträubte, lief sie zurück in Richtung Schule.

Sie hatte gerade einmal ein paar Meter zurückgelegt, da bemerkte sie, dass jemand neben ihr lief. Das war so ungewohnt, dass sie stehen blieb und aufsah. Die Person neben ihr blieb auch stehen. Ein Junge. Mit kurzem, schwarzen Haar und grünen Augen, die sie freundlich musterten. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

„Was willst du?", fragte sie, schon damit rechnend, dass er ein Freund von Jonas war und sie weiter demütigen wollte.

„Ich habe gesehen, dass du heute gar nichts gekauft hast", sagte er ruhig, fast als wären sie alte Bekannte. Als sie nichts erwiderte und sich ihre Augenbrauen fragend zusammenzogen, reichte er ihr wie aus dem Nichts eine angebrochene Tafel Schokolade. Traube und Nuss. Ihre Lieblingssorte. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihn oder die Schokolade anstarren sollte.

„Du musst dir schon ein Stück nehmen", murmelte er grinsend und schob ihr die Tafel noch etwas näher zu.

Wie in Trance zog sie ihre Hände wieder aus ihren Taschen und nahm die Tafel vorsichtig entgegen. Sie beobachtete ihn genau, als sie sich ein Stück abbrach, immer damit rechnend, dass sie direkt in eine Falle tappte. Doch nichts passierte. Er zog die Schokolade nicht zurück. Hielt sie weiter zwischen ihnen.

„Ich liebe den Geschmack von Schokolade mit Traub", redete er weiter, „Allgemein geht nichts über Schokolade und Früchte. Wie beim Schokofondue. Hast du das schonmal gemacht?"

Sie hatte einst gewusst, wie man seinen Mund benutzte, um zu sprechen, aber diesem Jungen gegenüber schien es plötzlich unmöglich. Sie konnte sich nicht erklären, was er von ihr wollte, woher er kam oder was er hiermit bezweckte. Er überraschte sie zutiefst. Doch er hatte ihr etwas von seiner Schokolade abgegeben und sich ihr zugewandt. Das reichte um ihm eine Chance zu geben. Sie hatte keine Ahnung, was aus dieser Begegnung entstehen würde, aber das spielte in diesem Moment auch keine Rolle. Also riss sie sich zusammen und zwang sich ihre Sprache zurückzugewinnen.

„Noch nie", flüsterte sie leise, während sie plötzlich, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, gemeinsam zur Schule hochliefen.

„Dann sollten wir das unbedingt einmal machen", stellte er entschlossen fest.

Als sich ihre Wege in der Schule trennten, war sein Name alles, was ihre Gedanken ausfüllte. Nicholas. Selten hatte sie so einen komischen Jungen kennengelernt, selten hatte sie sich sofort so zu jemandem verbunden gefühlt. Sie grinste, als der Unterricht wieder begann und sie sich verstohlen das letzte Stück Schokolade in den Mund schob.

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Hier ist er also, der erste Versuch eines Jugendbuches mit einem etwas holprigen Beginn xD Muss mich erst einmal in das Genre einfinden, aber der Plot liegt mir auf jeden Fall sehr am Herzen <3

Ich hoffe, euch hat das erste Türchen gefallen :)

Noch einmal fliegenWhere stories live. Discover now